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Nachruf Frieda Grafe: Sehen heißt Denken

Lust am Bild: zum Tod der Filmkritikerin Frieda Grafe.

Von Gregor Dotzauer

Keine größere Ehre, als wenn man einem Filmkritiker gestehen könnte, man habe mit seinen Texten sehen gelernt. Doch wer würde das zur letzten Ehre von Frieda Grafe, die nach langer Krankheit am Mittwoch mit 68 Jahren in München gestorben ist, ohne weiteres behaupten? Das mimetische, auf die literarische Nacherzählung zulaufende Schreiben, das viele ihrer Bewunderer pflegten, war ihre Sache nicht. Grafes Kritiken waren vielmehr zutiefst analytisch, begrifflich präzise und voller apodiktischer Urteile, deren Autorität zugleich von einer offenen, manchmal wie improvisiert wirkenden Textstruktur zurückgenommen wurde.

In dieser Offenheit spiegelte sich ihr Blick aufs Kino, ihr Augenmerk für das Nebeneinander von Schauspielergesten, Kameradetails und Ausstattungsfeinheiten, ihr Desinteresse an planem Storytelling. In diesem Sinne waren ihre Texte eine Schule des Sehens: als Einführung in eine Lust am Bild, die Roland Barthes’ „Lust am Text“ verwandt war. Vor allem waren ihre Filmlektüren eine intellektuelle Herausforderung. Denn ihre Texte nahmen die Genauigkeit der Literaturkritik zum Maßstab, und dass sie nicht ideologiekritisch, sondern kunsthistorisch argumentierten, macht ihre anhaltende Gültigkeit aus. Frieda Grafe, Romanistin, Übersetzerin und Partnerin des Filmhistorikers Enno Patalas, war immer ein critics’ critic: als Autorin der „Süddeutschen Zeitung“ nicht weniger denn zuvor bei der Zeitschrift „Filmkritik“. Doch sie blieb auch ein Vorbild für eine ganze Generation jüngerer Filmjournalisten, denen die in tage- und wochenlanger Arbeit erkämpfte Dichte ihrer Texte fremd sein musste. Ob sie über Jean-Luc Godards Puzzles schrieb, über Mitchell Leisens Screwball-Comedies oder über Herbert Achternbuschs bayerisches Radebrech-Kino: Sie erinnerte daran, dass der Film zwar jung ist, dass jedes Bild aber eine Vergangenheit auf Malerleinwänden hat.

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