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Zum Tod des Autors und Übersetzers Hans Stilett.

© dpa

Nachruf: Merci, Herr Montaigne

Hans Stilett war ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer. Ohne ihn hätten wir Michel de Montaigne nicht lesen können. Ein Nachruf

Wir saßen im Auto, zu dritt. Es war wohl 1994, gekannt hatten wir uns vorher nicht. Ziel war Saint-Michel-de-Montaigne, wo sich Michel de Montaigne 1570 in einen Turm zurückgezogen hatte, um seine Gedanken niederzuschreiben. Ein paar Leute wollten sich unter dem Turm treffen, um über Montaigne und sein Jahrhundertbuch, die Essais, zu reden.

In zwei Tagen durchquerten wir ganz Frankreich, eine seltsame Fahrt. Hans Stilett schon damals recht klein und schrumpelig, nervös und ein wenig taub, seine Frau eher wuchtig, notfalls unerbittlich. Draußen flirrte die Hitze, immerzu zankten sie sich: links oder rechts fahren? Wer hatte dieses feindliche Gutachten geschrieben und warum? Warum wollen sie nur drucken, wenn Fördergelder fließen? Und so weiter. Hans’ Frau hatte wohl ein wenig darunter gelitten, dass er nach seiner Pensionierung neu studiert und über Montaigne promoviert hatte, und dann hatte er auch noch, weiß der Himmel warum, plötzlich angefangen, dieses riesige Buch zu übersetzen.

Ein Ende an der Arbeit gab es nie

Ins Blaue hinein, ohne Verlag. Nach seiner „komparatistischen Methode“. 2000 Seiten, Satz für Satz, Absatz für Absatz das etwas seltsame Renaissancefranzösisch des Originals gelesen und verglichen mit allen anderen für ihn lesbaren Teil- und Ganzübersetzungen. Schon zehn Jahre Arbeit, aber nicht absehbar, wer wann das Ding je drucken sollte.

Es wurde ein großartiges Treffen am Turm des Meisters. „Über die Einsamkeit“, „Über die Trunksucht“, „Philosophieren heißt sterben lernen“ (Hans’ Lieblingsaufsatz) – wir debattierten über diese grandiosen, lebensweisen Montaigne’schen Essais, die auch heute noch die Kraft haben, das Denken und Leben ihrer Leser zu ändern. Danach schickte mir Hans seine Übersetzung, ich schickte sie Hans Magnus Enzensberger, das Buch erschien, die erste moderne deutsche Gesamtübersetzung als gewichtiger Folioband in blaues Leinen gebunden. Montaigne erstmals in all seiner Knorrigkeit, Derbheit, Raffinesse und Sprachkraft. Hans bekam Anerkennung, Preise, Ehrungen. Aber ein Ende an der Arbeit an Montaigne gab es nie.

Plötzlich redete er nur wirres Zeug

Hans hatte immer weitergemacht, übersetzte Montaignes Reisetagebuch, schrieb sein eigenes Buch über Montaigne. Wie Montaigne in seinem Turm bis zum Tod an den Essais gearbeitet hatte, lebte Hans in Bonn immerfort für Montaigne. Wir telefonierten, es war schwierig: Ich hatte den Verlag gewechselt, Hans hatte einen Schlaganfall gehabt. Anfangs war ich entsetzt: Der in der Sprache gelebt hatte, brachte nur noch wirres Zeug heraus.

Bald aber begriff ich: Eigentlich waren Hans’ Gedanken ganz klar; das Problem war nur, dass – des Schlaganfalls wegen – alles beim Akt des Sprechens durcheinandergeriet. Aber er kam wieder nach Hause, es erschienen Neuausgaben der Montaigne-Übersetzungen und Hans’ eigenes Buch „Eulenrod“, ein Mosaik der Welt seiner Jugend und Kindheit. Irgendwann dachte ich: Jetzt lebt er ewig. Jetzt, er war zweiundneunzig, ist doch ein Windstoß gekommen und hat das bisschen Hans, das noch da war, mitgenommen.
Der Autor ist Programmchef des Verlages Galiani Berlin

Wolfgang Hörner

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