zum Hauptinhalt
Im Buchstabenberg. Michel Butor (14. September 1926 bis 24. August 2016)im Jahr 1964 in Paris.

© AFP/Bertrand Langlois

Nachruf Michel Butor: In den Labyrinthen der Zeit

Der letzte Held des Nouveau Roman: zum Tod des französischen Schriftstellers Michel Butor.

Von Gregor Dotzauer

In Frankreich war er bis ins hohe Alter eine vitale Legende: der letzte Überlebende einer Bewegung, die unter dem Stichwort Nouveau Roman gerne als Gruppe betrachtet wird, literarisch aber reichlich heterogen war: Sie einte vor allem der Kampf gegen die Konventionen eines realistischen Erzählens. Mit Michel Butor ist nach Nathalie Sarraute, Claude Simon und Alain Robbe-Grillet nun mit 89 Jahren der sachlichste, kühlste und vielleicht reinste Vertreter eines inventarisierenden Schreibens gestorben, das den Wirklichkeitsschichten dieser Welt mit einer Vielzahl phänomenologischer Strategien gerecht werden wollte.
Anders als Robbe-Grillet, der, obwohl er die Auslöschung des Subjekts verkündete, in seinen Texten gerne von der Unschuld junger Mädchenblüte träumte; anders als Sarraute, die Netze aus vorbewussten Regungen webte; anders auch als der Zweite-Weltkriegs-Veteran Simon, der sehr wohl geschichtliche Erfahrungen fassen wollte, ging es Butor um die Aufhebung individuellen Bewusstseins in einer höheren Ordnung – oder wenn man will: in einem höheren Chaos.
Inspiriert von der Lektüre Edmund Husserls und in der Radikalisierung von Marcel Prousts „Recherche du temps perdu“ war für ihn dabei vor allem die Erfahrung der Zeit ausschlaggebend – auch in Kategorien des Raumes. Exemplarisch führte er das 1956 in seinem sinistren Pseudo-Krimi „Der Zeitplan“ (L’emploi du temps) vor. Butor erzählt darin von einem jungen Franzosen, den es für ein Jahr in eine endzeitlich anmutende nordenglische Industriestadt verschlägt, deren labyrinthische Strukturen er zu durchdringen versucht. Zeit spielt auch in seinen drei anderen Romanen eine entscheidende Rolle, in „Paris – Passage de Milan“, in „Paris–Rom oder Die Modifikation“ und besonders in dem Schulroman „Stufen“, der sich bis tief in die Stundenplanstrukturen vorarbeitet.

Berlin - eine zerklüftete Großstadt

Wie er selbst Stadt wahrnahm, erklärte er 1964 auch einmal in (West-)Berlin, wo er ein Jahr als Gast der Ford Foundation verbrachte. „Das System der inneren Verkehrsverbindungen ist eines der zerklüftetsten, das ich je in einer Großstadt kennengelernt habe. Das gibt dieser Stadt eine in den Geschwindigkeiten, in den Beziehungen der Stadtteile hervortretende Physiognomie, die höchst seltsam ist.“ Dass sie „wie eine Membran in eine außerordentlich empfindsame Grenze hineinreicht, macht aus ihr eine Art Mikrofon oder Trommel, auf der sich die geringsten Erschütterungen mit größter Deutlichkeit und Schärfe abzeichnen.“ Seine Leser sollte dieser abstrahierende, aufs Äußere gerichtete Blick nicht schrecken. „Jemand, der die Pariser Metro benutzt und die Plakate liest“, sagte er einmal zu Helmut Scheffel, „leistet eine wesentlich intensivere Entzifferungsarbeit, als ich sie ihm abverlange. Man hält die Leute überhaupt für wesentlich weniger intelligent, als sie wirklich sind.“ Und doch spürte er offenbar, dass er auch mit seinen Erzählformen an eine Grenze geraten war. Man könne nicht übersehen, hielt ihm seinerzeit der Kritiker Karl August Horst vor, „dass der Ertrag an Erkenntnis, den uns der Roman vermitteln soll, immer weniger im Roman selber gegeben werden kann. Zwar schärft er unser geistiges Apperzeptionsvermögen, ohne jedoch unseren Appetit mit Früchten, die auf seinem eigenen Boden gewachsen sind, stillen zu können.“ Butor, der 1975 in Nizza eine Linguistik-Professur übernahm, verabschiedete sich vom Roman und verlegte sich vor allem auf Essays. Die fünf Bände seines „Répertoire“ – Aufsätze zu Literatur, Musik und Malerei, die ihn von allen anderen Künsten am meisten faszinierte – haben in ihrer Deutungstiefe bis heute Bestand. Sie definieren seine literarische Stoßrichtung oft viel genauer. Auf Deutsch sind viele in den Ausgaben der untergegangenen Verlage Biederstein und Qmran noch zu Spottpreisen antiquarisch erhältlich. Zu seiner Lieblingsbeschäftigung hatte Michel Butor das Reisen erkoren. Zwischen Tunis und Neuseeland war er in vielen Ländern dieser Erde unterwegs, und auch künstlerisch hat er, etwa als Librettist einer Faust-Oper von Henri Pousseur, wenig ausgelassen. Am Mittwoch hat er seine persönliche Lebensreise im savoyischen Contamine-sur-Arve vollendet.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false