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Melancholiker aus Montreal, in Gesprächen auch zu umwerfendem Witz aufgelegt: Paul Bley (10.11.1932 bis 3.1.2016), hier mit schwerem elektronischen Gerät in Rom (um 1980).

© imago/Leemage

Nachruf Paul Bley: Offen, für alles

Form ohne Formeln: Mit dem Kanadier Paul Bley ist ein stiller Gigant des Jazzklaviers gestorben.

Von Gregor Dotzauer

Nichts als ein Flügel in den Osloer Rainbow Studios, und davor und darin, manchmal tief in den Gedärmen des Instruments, ein schwermütiger Klangarbeiter. Das war, 1972 aufgenommen, „Open, to Love“, das Album, mit dem er ein Gipfelwerk des Soloklaviers im Jazz schuf. Vierzig Minuten der zerbrechlichsten, innigsten, dramatischsten, dissonant angespannten Musik zwischen unaufgelöst verschwebenden Akkorden und kurzen Auf- und Ausbrüchen, zwischen konstruktiver Sprödigkeit und fast verzweifelt dagegenhaltender, teilweise mitgesungener Melodieseligkeit. Schimmernde Klangscherben, in denen sich alles spiegelte, was Paul Bley zuvor in den verschiedensten Konstellationen entwickelt hatte, und was noch kommen würde, in jenem unendlichen Umwälzungsprozess, der für ihn Improvisation ausmachte.

Im Grunde bestritt er sein ganzes Leben auf der Grundlage einer überschaubaren Zahl von Standards und der Kompositionen, die ihm seine beiden musizierenden Frauen geschenkt hatten: die geniale Dilettantin Carla Bley, die er als Zigarettenmädchen im New Yorker Birdland kennen- und lieben gelernt hatte und die später selber eine erfolgreiche Bandleaderin wurde; und ihre Nachfolgerin, die eigensinnige Annette Peacock, die unmittelbar zuvor mit dem Bassisten Gary Peacock verheiratet gewesen war, mit dem er ein halbes Jahrhundert lang auftrat. Zwei Stücke auf „Open, to Love“ (ECM), darunter das Titelthema, stammten von Annette, drei von Carla, und obwohl er nie müde wurde, sie zu spielen und aufzunehmen, entstand unter seinen Händen das Spielmaterial doch immer wieder wie neu.

1972 war Bley genau vierzig Jahre alt – alt genug, um sich in den Strudeln der Musikgeschichte einmal ganz auf sich selbst zurückzuziehen. Er hatte sich zuvor mit Annette Peacock in abenteuerlich quietschende Synthesizer-Projekte gestürzt und der akustischen Musik abgeschworen. Er hatte mit Barry Levinson am Schlagzeug und den Bassisten Peacock und Mark Levinson die ekstatischeren Gefilde des Free Jazz im Trio durchpflügt und mit ihnen zugleich eine fast bis zum Stillstand verschleppte Balladenkunst gepflegt. Er hatte als Teil der Jimmy Giuffre 3 zusammen mit deren klarinettespielendem Meister einen abstrakten kammermusikalischen Jazz erfunden, der, gerade gegen einige Angestrengtheiten der Neuen Musik, heute so luftig und frisch wirkt wie ehedem. Und er gehörte schon 1958 zu den Revolutionären einer Bewegung, die in Gestalt von Ornette Coleman und Don Cherry an den Hierarchien und Üblichkeiten eines sich an Songstrukturen und Bopgirlanden entlanghangelnden Miteinanders rüttelte. Kurz nach Colemans erstem Studioalbum „Something Else!!!!“ fiel er mit den beiden sowie Charlie Haden und Billy Higgins im kalifornischen Hillcrest Club über Kompositionen von Irving Berlin und Charlie Parker her und verhalf ihnen im Umfeld von Colemans eigenen Stücken wie „The Blessing“ zu einem wahrhaft modernen Gepräge.

Wenn man wissen will, mit welchen Freiheiten er formelhaftes Musizieren aufsprengte, ist jedoch nach wie vor Bleys Solo über Kern/Hammersteins „All The Things You Are“ der Maßstab aller Dinge. Wenige Takte im Jazz sind so oft transkribiert worden wie die drei Chorusse, die er 1963 auf „Sonny Meets Hawk!“ in der zehnminütigen Version des Standards spielte. Wie er hier über alle Changes, die Akkordfortschreitungen, mit eigenen Motiven hinwegsegelt, ohne sie zum Einsturz zu bringen, fasziniert Pianisten bis heute. Und so hat er parallel zu den mehr oder weniger freien Improvisationen, die einer kalligrafischen Neigung der Linienführung folgen, stets auch swingendere Formen hochgehalten – mit der ihm eigenen Unabhängigkeit und einer leisen Leidenschaft für den Blues.

Paul Bley stammte aus dem kanadischen Montreal, wo er früh Kontakte zur Jazzszene suchte. Zum Studium ging er nach New York an die Juilliard School und besuchte dort mehrere Workshops mit Lennie Tristano. Kontakt. Er debütierte 1953 auf „Introducing Paul Bley“ zusammen mit seinem Mentor Charlie Mingus und Art Blakey. Später, in den den Achtzigern, schien er fast overrecorded: ein Mann, der seinen eigenen Begriff von Fleiß und Faulheit hatte, indem er sich dem Üben am liebsten verweigerte, um so spontan wie möglich zu sein. Das konnte nicht ohne Wiederholungen abgehen. Nun aber ist man dankbar für jeden Ton, den dieser Gigant des Jazzklaviers hinterlassen hat. Am Sonntag ist er, wie seine dritte Frau Carol Goss, die Videokünstlerin und Mitbegründerin seines Labels Improvising Artists und die gemeinsame Tochter Vanessa bekannt gaben, im Kreis der Familie mit 83 Jahren gestorben. Gregor Dotzauer

Melancholiker

aus Montreal –

in Gesprächen auch zu umwerfendem Witz aufgelegt:

der Pianist

Paul Bley

(10. 11. 1932

bis 3. 1. 2016)

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