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Kultur: Nachts ist der Mensch nicht gern allein

Simon Rattle, Lang Lang und die Berliner Philharmoniker in der Waldbühne

Fast auf den Tag genau 20 Jahre ist es her, dass die Berliner Philharmoniker zum ersten Mal in der Waldbühne aufgetreten sind. Unter Leitung eines gewissen Reinhard Peters spielten sie am 30. Juni 1984 einen bunten Klassik-Hitmix von Händel bis Rachmaninov. Im Jahr darauf trat Daniel Barenboim vors Orchester, dann kamen Erich Leinsdorf, Rafael Frühbeck de Burgos, Lorin Maazel und Sir Colin Davis. Selbstverständlich hat Herbert von Karajan niemals ein Open-Air-Konzert dirigiert, auch wenn sich das Experiment mit der Freiluft-Klassik schnell zum absoluten Publikumsmagneten entwickelte. Sein Nachfolger war sich dagegen nicht zu fein für das Saison-Abschlusskonzert unterm Sternenzelt – auch wenn Claudio Abbado beim traditionellen Rausschmeißer „Das ist die Berliner Luft“ die Philharmoniker und ihre Besucher dann doch lieber alleine pfeifen und schunkeln ließ.

In der höchst illustren Liste der Waldbühnen-Dirigenten taucht der Name von Simon Rattle bereits 1995 auf, mit einer american night, bei der er Werke von George Gershwin und Leonard Bernstein präsentiert. Da ist an seine Ernennung zum Chefdirigenten des deutschen Spitzenorchesters noch nicht zu denken – als effektsicherer Kapellmeister für populäre Großereignisse aber empfiehlt sich der Brite schon damals.

Auch Rattles zweiter Auftritt in dem zur Olympiade 1936 errichteten (und vor allem als Austragungsort für Boxkämpfe genutzten) Amphitheater endet am Sonntag in rauschhaften Applausstürmen: Ob unten auf dem Rasen oder 30 Meter höher auf den hintersten Rängen, die 22000 Philharmoniker-Fans, die ein Ticket für den seit langem ausverkauften Abend ergattert haben, entlassen den Maestro und seine Musiker jubelnd in die Spielzeitpause.

Diese „Tschaikowsky-Nacht“ ist allerdings auch dazu angetan, die gekräuselte Stirn all jener zu glätten, die hinter Veranstaltungen wie dem Waldbühnenkonzert den Vormarsch der Häppchenkultur vermuten: Das erste Klavierkonzert des russischen Komponisten erklingt hier selbstverständlich als ganzes Werk, und auch vom „Nussknacker“-Ballett hat Rattle keine Best-of-Suite ausgewählt, sondern den kompletten zweiten Akt.

Und dank der inzwischen perfektionierten Tonanlage dringen die Feinheiten der Interpretation dann auch bis zu den picknickenden Zuhörern durch: Vor allem Lang Lang, der blutjunge, weltweit gefeierte Starpianist aus China, gönnt sich immer wieder Momente der Versunkenheit, zoomt sich gewissermaßen aus Berlin in ferne Galaxien und zaubert hauchfeine Pianissimi (wovon sich allerdings weder die Vögel noch einige der mitgebrachten Babies sonderlich beeindruckt zeigen). Dass dieses Klavierkonzert einst als unspielbar galt, mag man kaum glauben – so leicht und mühelos serviert Lang Langs seine brillanten Läufe und Akkordketten.

Simon Rattle lässt die Philharmoniker prächtig aufrauschen, feiert Tschaikowsky als Meister süßer Sinnlichkeit, überrascht aber auch mit manchem interessanten Detail. So richtig rasant sind seine Tempi: Bei diesen Geschwindigkeiten wäre wohl jedes andere Orchester aus der Kurve geflogen.

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