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Kultur: Nahost: Die Geisteskrankheit der Gewalt

Uri Avnery (78), Publizistund Pazifist, Gründer der Initiative "Gush Shalom". Befindet sich Israel jetzt im Krieg?

Uri Avnery (78), Publizistund Pazifist, Gründer der Initiative "Gush Shalom".

Befindet sich Israel jetzt im Krieg?

Ja. Es ist ein normaler Guerillakrieg mit ungleichen Kräften. In der römischen Arena gab es einen schwer bewaffneten Gladiator und einen Ungepanzerten mit einem Dreizack und einem Netz um den Gerüsteten herumtanzte. Wenn ihn der Gladiator mit seinem Schwert erwischte, war er tot. Aber der im Panzer war unbeweglich, der andere wollte ihn fangen mit dem Netz. So ähnlich ist das jetzt bei uns: das schwer gepanzerte Militär gegen ein Netz von Guerillieros.

Im Oktober 2000, als die zweite Intifada ausbrach, schrieben Sie im Tagesspiegel: Es ist das Recht der Palästinenser, für ihre Freiheit zu kämpfen. Sind auch die Mittel legitim?

Sie nutzen die selben Guerilla-Mittel wie jedes andere Volk in derselben Lage. Kolonialherrscher nennen das Terrorismus. Das haben wir unter den Briten auch erlebt . . .

Mit dem Unterschied, dass es damals eine politische Lösung gegeben hätte.

Eine politische Lösung liegt auf der Hand. Man kann sie morgen früh erreichen.

Warum hat dann Arafat das Angebot von Taba vor einem Jahr abgelehnt?

Das ist ein Irrtum, den Auslandskorrespondenten von Israels Propaganda übernommen haben. In Taba kamen sich beide Seiten sehr nah. Abgebrochen wurden die Verhandlungen einseitig: von Premier Barak, vor den Neuwahlen.

Es hatte auch Terroranschläge gegeben.

Barak glaubte, dass die Verhandlungen ihm schaden; geschossen wird immer. Warum sollte die starke Seite verhandeln, wenn nicht geschossen wird? Der aktuelle Plan Premierminister Sharons sieht nun vor, die Palästinenser in fünf Reservate einzusperren, umringt von israelischem Militär und Siedlern. Der Gazastreifen soll dreigeteilt werden.

Eine Zersplitterung, die Israels Soldaten noch angreifbarer macht.

Ja, das fängt man jetzt an zu begreifen. Ich beschreibe Ihnen ein Bild. Wir waren bei Arafat vor zwei Wochen in Ramallah. Von Jerusalem dorthin sind es zwölf Kilometer, Auf dem Weg dorthin gibt es zwei Armeesperren. An der ersten Sperre haben die Soldaten uns nicht angeguckt, die zweite war unbesetzt. Auf dem Rückweg war sie besetzt. Es war ein Regentag. Ein Stau von drei, vier Kilometern. Palästinenser, die von ihrer Arbeit zurückkehrten. Es ging vorwärts, ein Meter die Minute. Die Palästinenser gingen zu Fuß, über ein Matschfeld. Elegante Frauen, Mütter aus den Dörfern, Anwälte mit Aktentaschen, Gemüsehändler. Sie hatten ihr Auto am Ende der Stadt verlassen. Als wir an der Kontrollstelle angekommen waren, standen da zwei Soldaten. Sie sahen gar nicht hin, haben nur den Verkehr verlangsamt. Mehr Sicherheit bringt die Schikane nicht, Selbstmörder gehen zu Fuß. Aber jetzt haben die Palästinenser erstmals eine Sperre gestürmt, sechs Soldaten umgebracht. Der Krieg wird intensiver, die Palästinenser lernen neue Methoden, Israelis reagieren mit neuen Methoden.

Die Zustimmung für Arafat soll jetzt wieder sehr gestiegen sein . . .

Arafat, der in Ramallah praktisch eingesperrt ist, ist heute mehr der Führer des palästinensischen Volkes als je zuvor.

Hat Sharon ihn aufgebaut?

Ja, sie machen aus ihm einen Märtyrer. Armeeoffiziere glauben an die Gewalt der Gewalt. Aber die ist in dieser Art Kampf nicht so wirkungsvoll. Ihre Methode, militante Palästineser umzubringen, nennen sie "lokalisierte Prävention". Umgebracht werden lokale Guerilla-Führer, sehr oft aber die politische Leitung. Die Armee glaubt, wenn man genug von denen tötet, ist die Gruppe unschädlich. Im Gegenteil: An den Platz der bekannten, politischen Figuren rücken extremere Militante von unten. Ich war selbst Terrorist, als ich jung war, gegen die Briten, ich weiß, wie man da reagiert. Mittlerweile sagen die meisten Palästinenser: Die Israelis verstehen nur die Sprache der Gewalt.

Das sagen auch Israelis über Palästinenser. Was erklären Sie einem Israeli, der sieht, dass es so nicht weitergeht, aber Probleme damit hat, dass Arafat so oft gelogen hat, weshalb schwer vorstellbar ist, dass er einen Friedensvertrag halten würde?

Ben Gurion schreibt in seinem Tagebuch: Wenn Sharon zu lügen aufhörte, wäre er ein vorbildlicher Militärführer. Arafat lügt weniger als die meisten, weil er seit 20 Jahren dasselbe verlangt: einen Staat Palästina in den besetzten Gebieten und Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt; und dass die jüdischen Siedler abgezogen werden sowie eine Lösung des Flüchtlingsproblems, die Israels demographisch nicht überfordert.

Viele arabische Intellektuelle sollen sich nach dem Beginn des Oslo-Prozesses von israelischen Kontakten zurückgezogen haben.

Weil sie ungeheuer enttäuscht wurden von der israelischen Friedensbewegung.

Gab es auf israelischer Seite nicht ebenfalls Grund, von den Partnern enttäuscht zu sein?

Palästinensische Fundamentalisten wollen den Staat Israel nicht, sondern ein muslimisches Land. Sie sind eine kleine Minderheit In Israel haben wir immerhin drei Minister, die in Deutschland als rechtsradikal definiert würden. Der Kriegszustand lässt auf beiden Seiten die radikalsten Elemente populär werden. Bis vor kurzem kamen alle Selbstmörder aus den Reihen der Fundamentalisten. Jetzt treten auch säkulare Leute dazu an; es gibt bereits Fatah-Leute, die Selbstmord begehen. Mittlerweile sind Tausende dazu bereit.

Journalisten nennen Sie die "Taube vom Dienst": Wie geht es dem Friedenslager?

Mit Beginn der Intifada vor 16 Monaten war das Friedenslager teilweise zusammengebrochen. Übrig blieben wir von Gush Shalom, der radikale Kern. Wir haben wöchentlich Demonstrationen gemacht, haben Häuser aufgebaut, die von der Armee zerstört worden waren, haben mit den Palästinensern Armeesperren durchbrochen. Wir organisieren einen Boykott der Erzeugnisse von Siedlern in den besetzten Gebieten. Und wir verteilen eine Karte an Soldaten., auf der steht: "Liquidation, administrative Verhaftung, Häuserdemolierung, Folter, Deportation und Anwerbung von Kollaorateuren sind Kriegsverbrechen im Sinne der Genfer Konvention. Wenn du das tust, kannst du im Ausland wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden, wie es Sharon passiert ist."

Wie reagiert die Mehrheit auf Sie? Gelten die Friedensaktivisten als blauäugige Spinner?

Schopenhauer hat gesagt, jede Wahrheit durchlaufe drei Stadien: Erst ist sie lächerlich, dann erregt sie gewaltsamen Widerstand, zuletzt wird sie als selbstverständlich akzeptiert. Wir sind zwischen Stadium 2 und 3. Oder, mit einem Witz: Was ist der Unterschied zwischen Psychotikern und Neurotikern? Der Psychotiker glaubt, zwei und zwei seien fünf; der Neurotiker weiß, es sind vier - aber es ärgert ihn. Israel ist in dem neurotischen Stadium der widerwilligen Einsicht. Während des ersten Jahres von Sharon und der Intifada waren wir sehr isoliert. 14 Monate haben fast alle Medien die Propaganda der Regierung nachgeplappert. Vor sechs Wochen begann sich das zu ändern. Die Armee demolierte 55 Häuser an der Südgrenze des Gazastreifens. Das hat auf die Öffentlichkeit einen stärkeren Eindruck gemacht als die massenhaften Tötungen: Flüchtlinge in Elendshäusern, die aufgewachten, als der Bulldozer schon ihr Haus attackierte. Am Tag vorher hatten wir zum ersten Mal eine Veranstaltung zum Thema Kriegsverbrechen gemacht. Darauf folgte ein Aufruf von 50 Reservesoldaten: Wir verweigern ab jetzt den Dienst in besetzten Gebieten. Nun sind es schon über 200.

Sie haben mal gesagt: Wenn Israels Öffentlichkeit den Krieg leid ist, wird es Frieden geben. Wächst jetzt die Friedensbereitschaft?

Diese Bereitschaft hängt weniger von der Überlebenschance des Einzelnen ab als davon, dass die Leute beeindruckt sind.

Dann ist es ein Medienkrieg.

Ja, es geht beiden Seiten um psychologischen Einfluss und Sympathie im Ausland.

Wie ist der Friedensprozeß von außen zu fördern? Sie sagten im Sommer 2001 dem Tagesspiegel, Joschka Fischer sei nicht sehr tapfer gewesen bei seinem Nahost-Besuch.

Jetzt hat er etwas Gutes getan, indem er Arafat in Ramallah besuchte. Auch wenn er überzeugt zu sein scheint, dass sich seine Außenpolitik weitgehend mit den USA identifizieren muss. Und deutsche Medien plappern israelisch-amerikanische Propaganda nach und benutzen deren Terminologie.

Ein Beispiel?

Gestern hörte ich im Radio, Israels Armee habe das und das getan, nachdem - nachdem die Palästinenser das und das getan haben. "Nachdem" ist ein Propagandawort, das ein gewöhnlicher Hörer nicht wahrnimmt.

Es wird eine Kausalität behauptet.

Ja, alle Taten der Israels seien Reaktionen auf Palästinenser-Taten. Aber Sie können genauso für das Gegenteil argumentieren.

Aber man muss doch Kontexte herstellen.

Kausalitäten: Ein Jagdflieger schickt eine Rakete auf ein Auto, in dem ein palästinensischer politischer Führer mit seinen vier Kindern fährt. Ein Selbstmörder sprengt sich in die Luft in Jerusalems Fußgängerzone. Israels Armee fällt ein in Ramallah ein. Ein Panzer wird dort in die Luft gesprengt. So fängt es an. Zehn Häuser werden abgerissen in Ostjerusalem. Ein Selbstmörder aus Ostjerusalem geht in die Diskothek. Wer bestimmt, wo das anfängt?

Berichten ohne diesen Kontext wirft man gern israelfeindliche Haltung vor.

Das ist eine journalistische Charakterfrage. Weil die Deutschen sechs Millionen Juden ermordet haben vor 60 Jahren, muss man den israelisch-palästinensischen Konflikt so behandeln? Philosemitismus ist eine Sonderbehandlung mit verkehrten Vorzeichen. Gestern musste man die Juden sonderbehandeln, weil sie Juden sind, und umbringen; heute muss man sie speziell behandeln, weil sie umgebracht wurden. Wenn Israel etwas tut, muss man es anders behandeln, als wenn Serbien etwas tut? Es ist kein Zufall, dass Sharon offen Milosevic unterstützt hat.

Sie selbst haben Deutschland als Zehnjähriger verlassen müssen. Was ist ihre stärkste Erinnerung an dieses Land?

Viele Bilder habe ich im Kopf. Das Ende der Weimarer Republik, das erste Jahr des "Dritten Reiches". Das ganze Volk in Uniformen: Es gab mehrere Privatarmeen, diese Aufzüge und Märsche mit den Pfeifen der Kommunisten und den Trommeln der Nazis. Ich selbst gehörte zu einer zionistischen Jugendbewegung in Hannover, auch wir hatten Uniformen, Wimpel! Der Umschwung kam nicht dramatisch, das ging langsam. Der Lehrer kam in die Klasse, grüßte erstmals Heil Hitler, rief mich zu sich: Es hat sich nichts verändert, wenn irgendwas passiert, komm sofort zu mir. Wie benehmen sich anständige Leute in so einem System? War das etwas deutsches? Es wäre auch bei uns möglich. Eine politische Geisteskrankheit. Sogar ein reiches, gesundes Volk wie die Deutschen heute trägt in seinem Körper eine Anzahl dieser Viren. Die Krankheit kann ausbrechen, wenn aus irgendeinem Grund die gesellschaftliche Immunität zusammenbricht.

Befindet sich Israel jetzt im Krieg?

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