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Kultur: Nahost-Krise: Der Terror des Misstrauens

Kürzlich sah ich ein Nachrichtenmagazin eines amerikanischen Fernsehsenders. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand die Rede von George W.

Kürzlich sah ich ein Nachrichtenmagazin eines amerikanischen Fernsehsenders. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand die Rede von George W. Bush anlässlich seiner Amtseinführung, in deren Verlauf der frisch gebackene US-Präsident seiner Frau liebevoll-väterlich das Hinterteil tätschelte. "Dieses Bild bringt das Wesen von Präsident Bush jun. auf den Punkt: Er ist nett, reaktionär und ein bisschen Chauvinist. Begrüßen Sie mit mir den neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten." Mit diesen Worten moderierte der Sprecher die beschriebene Geste. Für die Langsamen unter den Zuschauern wurde der Vorfall in Zeitlupe wiederholt, wie bei einem Matchball in Wimbledon.

Ich saß da und war neidisch. Nicht auf Bush jun. natürlich. Nein. Sondern auf dieses wunderbare amerikanische Volk, dessen politische Realität so prägnant durch ein einziges Bild ausgedrückt werden kann.

Jetzt sitze ich hier in meinem Tel Aviver Wohnzimmer und denke an den israelisch-palästinensischen Konflikt. Welches Bild könnte diesen Konflikt auf ebenso umfassende Weise wiedergeben? Ist es das herzzerreißende Bild des palästinensischen Jungen, der in den Armen seines Vaters stirbt? Oder vielleicht das Bild des grausamen Lynchmordes der Einwohner von Ramallah an den beiden israelischen Reservisten? Sind es die Bilder des mit einem Knüppel bewaffneten israelischen Soldaten, der eine Palästinenserin vor sich her und dann zu Boden stößt? Oder ist es vielleicht das Bild des Erschießungskommandos, das einen gefesselten Angeklagten, der der Kollaboration mit Israel verdächtigt wird, mit Dutzenden von Gewehrsalven exekutiert?

Es fällt mir schwer, ein Bild zu finden, das die politische Realität von Israelis und Palästinensern in ihrer Komplexität wiedergibt. Auch zwei Bilder würden nicht ausreichen. Und auch nicht drei. Der gegenwärtigen Situation könnte vielleicht eine ganze Bilderfolge gerecht werden, die all die widersprüchlichen Emotionen einfängt, die in dieser vielschichtigen Auseinandersetzung eine Rolle spielen - und die Zahl der inneren Widersprüche ist nahezu unendlich!

Nehmen wir zum Beispiel die Frage nach Stärke und Schwäche. Die Palästinenser sind natürlich davon überzeugt, die schwache Seite in diesem Konflikt zu sein. Sie sind ein Volk ohne reguläre Armee, das sich hochgerüsteten Streitkräften mit Panzerwagen und Hubschraubern gegenüber sieht. Aber auch die Israels sehen sich in ihrem kollektiven Bewusstsein als die schwache Seite in der Auseinandersetzung mit der gesamten arabischen Welt, wobei die Palästinenser lediglich die Spitze des Eisbergs jener panarabischen Macht darstellen, die Israel zu vernichten droht. Schließlich musste Israel in seinen letzten Kriegen mit mehr als nur palästinensischen Molotow-Cocktails und Gewehren fertig werden. Da gab es auch irakische Raketen, syrische Kampfflugzeuge und ägyptische Panzer.

Eine Geschichte, zwei Versionen

Ebenso kann der historische Prozess, der zu diesem Konflikt geführt hat, auf mehr als nur eine Weise erzählt werden. Die israelische Seite gibt ihn als Bericht über ein verfolgtes Volk wider, das sich unmittelbar nach den Schrecken der Shoah, unterstützt von den Nationen der Welt, beim Aufbau eines Staates wiederfand, in dem es nicht der Gnade anderer ausgeliefert sein sollte. Eines Staates, der von ihm feindlich gesinnten Völkern umgeben ist, die aus religiösen, rassistischen und territorialen Gründen versucht haben, ihn anzugreifen und zu vernichten. Die palästinensische Seite erzählt diese Geschichte völlig anders. Nämlich als die einer Nation, deren Wurzeln in Europa liegen und die nichts mit dem Mittleren Osten verbindet. Als Geschichte eines Volkes, das willkürlich einen Staat in einer Region errichtete, in die es nicht gehört, und das sich durch nichts von jenen Trägern des Kreuzes unterscheidet, die auf den Flügeln ihrer utopischen Vision aus Europa nach Osten gegangen waren und die eine fremde, sich als überlegen aufspielende Kultur sowie einen nicht enden wollenden, blutigen Krieg mitgebracht hatten.

Was haben diese beiden Seiten, die die Wirklichkeit auf so unterschiedliche Weise sehen, gemeinsam? Das gegenseitige Misstrauen. Bei beiden Völkern haben die Ereignisse der vergangenen vier Monate im komplizierten Beziehungsmosaik ihrer Koexistenz tiefe Verwerfungen hinterlassen, wenn sie dieses Mosaik nicht gar bis zur Unkenntlichkeit zerstört haben. Handelsbeziehungen, Freundschaften, ja sogar Liebesbeziehungen - vor nichts haben die zerstörerischen Kräfte des Misstrauens Halt gemacht. Es ist äußerst beunruhigend zu sehen, wie schnell die Erinnerung an viele Jahre der Koexistenz ausgelöscht werden kann, als habe es sie niemals gegeben.

Heute sehen die meisten Menschen beider Völker die jeweils andere Seite nicht als etwas Heterogenes, sondern als ein einziges bedrohliches Etwas. Für die meisten Israelis ist der Palästinenser als solcher ein hasserfüllten Terrorist, ein Anhänger des Dshihad, der ihnen nach dem Leben trachtet. Und für die meisten Palästinenser hat sich der Israeli zum grausamen, religiösen Fanatiker gewandelt, der ohne Zögern auf einen kleinen Jungen schießen würde, sollte er auch nur den leisesten Verdacht hegen, der Junge habe Steine gegen sein Fahrzeug geschleudert.

Neben der tiefen emotionalen Zerrissenheit gibt es auch ganz profane Hindernisse für grenzüberschreitende Freundschaften. Ein Palästinenser kann nicht einfach seinen israelischen Freund zu sich nach Hause einladen, denn er kann in der feindseligen Umgebung seines Dorfes nicht für dessen Sicherheit garantieren. Erst vor wenigen Tagen wurden zwei junge Israelis, die mit ihrem arabischen Freund ein Restaurant besuchten, von Anhängern der Tanzim ermordet. Und ein Israeli, der einen Palästinenser zu sich nach Hause einläd, weiß, dass dieser demütigende Kontrollen seitens der Polizei und misstrauische, wenn nicht gar hasserfüllte Blicke der Nachbarn über sich ergehen lassen muss.

Inmitten dieses Gefühlschaos und der scheinbar unlösbaren Widersprüche sprechen beide Völker von einem "gerechten Frieden" - und wundern sich, dass sie unfähig sind, sich auf einen Vergleich zu einigen. Wenn man das Wort "gerecht" aus dieser Formel streichen und in einer der Wirklichkeit sehr viel näheren Formulierung von einem "frustrierenden, verwirrenden, nicht wirklich zufrieden stellenden Frieden" sprechen würde, könnte das, glaube ich, ein erster Schritt auf dem langen Weg zu einem Kompromiss sein.

Wenn jede der Seiten einen Blick in Vergangenheit und Gegenwart wagen und dabei Verständnis für die Gefühle und Opfer des jeweils anderen aufbringen würde, könnten beide erkennen, dass es im langjährigen und problematischen Beziehungsgeflecht zwischen Israelis und Palästinensern nur sehr wenig Gerechtigkeit und Frieden gibt. Die Liste der Opfer von Kriegen und Terror beider Völker ist eine lange und noch immer nicht abgeschlossene Liste von Unrecht, blindem Hass und von Angst. Und da ist die fehlende Bereitschaft, die Nöte des jeweils anderen zu erkennen.

Selbst ich, ein optimistischer und etwas verträumter Mensch, kann mir für die Situation, in der wir uns befinden, keine wirklich gute Lösung vorstellen. Aber da es an Alternativen mangelt, würde ich mich auch über schlechte Lösungen freuen. Ich träume vom Frieden, aber auch das Ende des gegenseitigen Tötens wäre schon viel. Ich stelle mir Liebe vor, würde aber alles, was ich besitze, geben, um den Hass verschwinden zu sehen. Doch im Augenblick liegt auch die Verwirklichung solch kleiner Wünsche Lichtjahre entfernt von dem Abgrund, in den wir tiefer und tiefer hinab gezogen werden.

Der Autor wurde 1967 in Tel Aviv geboren, wo er heute an der Filmakademie Drehbuchschreiben unterrichtet. Mit seinen Erzählungen, Comics und Kurzfilmen trifft er das Lebensgefühl der jüngeren Generation. Auf deutsch sind von ihm im Luchterhand Verlag die Bücher "Gaza Blues" (1996) und "Pizzeria Kamikaze" (2000) erschienen. Demnächst erscheint der Erzählungsband "Der Busfahrer, der Gott sein wollte".

Etgar Keret

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