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Kultur: Narkotisch

Thielemann dirigiert die Berliner Philharmoniker

So klingen wahre Herbstgesänge: „Auch das Schöne muss sterben!“ Oder offensiv drohend: „Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht!“ Vielleicht noch etwas fatalistischer: „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen.“ Die Werke für Chor und Orchester, die Johannes Brahms auf Verse von Schiller, Goethe und Hölderlin komponierte, gemahnen an die Endlichkeit des Menschen, stimmen ein auf Abschied. Und doch verströmt das eingedunkelte Klangbild einen milden Trost, so wie ein alter Kirchenbau, in dessen Mauern ungezählte Gebete und Gesänge eingesickert sind.

Brahms’ „Nänie“, „Gesang der Parzen“ und „Schicksalslied“ sind vollgesogen mit Tradition, wahre Nachtspeicherheizungen der Kultur, die den Menschen trotz aller irdischen Leiden wärmt: „Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich, denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinaus“, verdichtet Schiller die Hoffnung eines jeden musizierenden Menschen. Natürlich ist das in seinem altgoldenen Schnitt Stoff für Christian Thielemann. Der fühlt sich am Pult der Berliner Philharmoniker spürbar wohlig und dirigiert beinahe besorgniserregend entspannt. Würde nicht der Rundfunkchor Berlin einen Hauch Körnigkeit in die Philharmonie tragen und die Bläser herrlich aufschimmern, Thielemanns breite, balsamische Lesart hätte auch narkotisches Potenzial. Das gilt auch für die schweren Düfte, die Schönbergs „Pelleas und Melisande“ durchwehen. Die Frage, ob hier eher Brahms oder Wagner Klangpaten standen, geht unter im Aufblühen und Vergehen der Orchestersoli, das Thielemann vor einem dicken roten Samtvorhang inszeniert. Schönberg gefangen in Wiens Kunsthistorischem Museum. Manchmal stirbt das Schöne vor der Zeit (noch einmal heute, 20 Uhr). Ulrich Amling

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