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Lupenreiner Diktator. Gaddafi 2009 beim 40. Jahrestag der libyschen Revolution.

© dpa

Nation Building: Und was kommt nach Gaddafi?

Der Westen sollte sich lieber raushalten: Politikwissenschaftler warnen in zwei Büchern vor „Nation Building“. Der westliche Staat lässt sich nicht leicht exportieren.

Wozu noch Bücher über „Nation Building“? Haben nicht gerade die Tunesier und Ägypter der staunenden Welt vorgeführt, dass sie es selbst können: einen neuen Staat aufbauen – ohne Intervention von außen? Oder wie es Gene Sharp, Analyst von Widerstandsbewegungen vom „Albert Einstein Institution“ in Boston, in einem Interview mit der „SZ“ formuliert hat: „Nach den Ereignissen in Ägypten kann kein amerikanischer Präsident mehr sagen, dass wir ein anderes Land angreifen müssen, um ihm die Freiheit zu bringen.“ Doch eben hierzu hat die libysche Opposition den gegenteiligen Standpunkt vertreten – mit Erfolg. Nun greifen die Vereinigten Staaten zusammen mit ihren Verbündeten in den libyschen Bürgerkrieg ein.

Der Konflikt in Libyen hat den Westen erneut vor die schwierige Frage gestellt: Was tun, wenn ein Diktator sein eigenes Volk bombardieren lässt? Wie schwer die Suche nach einer schlüssigen Antwort ist, haben im Fall Gaddafis nicht nur die Dringlichkeitssitzungen des UN-Sicherheitsrats, die Sondersitzungen des Nato- Rats, Beratungen der EU-Verteidigungsminister und die Sondersitzung des UN- Menschrechtsrats gezeigt. Auch ausgewiesenen Experten fällt es in ihren jüngsten Publikationen nicht leicht, überzeugende Konzepte für das richtige Verhalten des Westens zu entwickeln.

Berit Bliesemann de Guevara und Florian P. Kühn nennen ihr Buch sogar gleich „Illusion Statebuilding“. Die beiden Politikwissenschaftler, die bereits preisgekrönte Dissertationen über Intervention und Staatlichkeit in Bosnien und Herzegowina sowie den Zusammenhang von Sicherheit und Entwicklung in Afghanistan vorgelegt haben, scheinen für ihre These von der Illusion Statebuilding die Statistik auf ihrer Seite zu haben: Zwar ist seit dem Ende des Kalten Krieges externes Staatenbauen durch mehr oder weniger stark militärisch geprägte Interventionen zugleich Ziel und Instrument internationaler Politik geworden. Aber Versuche, Staaten nach westlichem Vorbild in historisch wie strukturell anders geprägten Gesellschaften zu verankern, scheiterten immer wieder.

Anhand der Fälle Bosnien und Herzegowina sowie Afghanistan zeigen Bliesemann de Guevara und Kühn, dass die westliche Vorstellung eines funktionierenden Staates auf Voraussetzungen beruht, die sich nur schwer exportieren lassen: die Handlungsfähigkeit des Staates, die durch das Gewaltmonopol und die Fähigkeit, sich zu finanzieren, garantiert wird, sowie die Legitimität, die sich auf demokratische Wahlen und die Herstellung von Sicherheit und Wohlfahrt für die Bürger gründet. Aber beide Faktoren ließen sich beim Großteil der bisherigen Interventionen nicht implementieren.

Nach den – leider – sehr überzeugenden Analysen von Bliesemann de Guevara und Kühn scheint Statebuilding als Aufbau gesellschaftlich eingebetteter Herrschaftsstrukturen in der Tat eine Illusion zu sein: Die Institutionen der neu errichteten Staaten erweisen sich oft als Fassaden, die den internationalen Normen von Staatlichkeit zwar formal weitgehend entsprechen. Aber die dahinterliegenden Sozialbeziehungen weisen andere Strukturen auf, folgen anderen Mustern und Logiken. Daher mangelt es dem Staat an Handlungsfähigkeit und Anerkennung.

Bliesemann de Guevara und Kühn beschreiben treffend das wechselseitige Dilemma zwischen schwachen neuen Staaten und ihren Bürgern: Einerseits durchdringe der Staat die Gesellschaft nicht, er könne politische Ziele also kaum umsetzen. Andererseits kontrolliere beziehungsweise nutze die Gesellschaft staatliche Funktionen kaum. Auf diese Weise schaffe Statebuilding keinen modernen Staat und die Intervention könne bestehende Konflikte nicht lösen – mehr noch: sie erzeuge sogar neue Probleme. Die nicht zuletzt in Afghanistan zu beobachtenden Folgen mit verheerenden Konsequenzen für den Westen: Die Intervention macht sich selbst unentbehrlich. Denn die Fassade des Potemkin’schen Staates droht ohne den immer wieder verlängerten Einsatz der Staatengemeinschaft einzustürzen – mit potenziell katastrophalen Folgen.

Was also ist zu tun – oder nicht zu tun? Bliesemann de Guevara und Kühn schließen mit einem Plädoyer, der Westen solle im Umgang mit Krisen in fragilen Staaten realistisch und bescheiden handeln und letztlich die Selbsttäuschung umfassender Gestaltungsfähigkeit im Statebuilding beenden. Wem dieser sicherlich richtige Rat nicht ausreicht, der sollte zum neuen Jahrbuch des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) greifen, das ebenfalls Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit beleuchtet. Die Herausgeber haben 58 namhafte Autoren aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft versammelt, um die bisherigen „Einsätze für den Frieden“ grundlegend zu untersuchen. Das fängt bereits mit der heutigen Dimension begrenzter Staatlichkeit an: Rund 40 bis 60 Staaten werden derzeit als „schwach“, „versagend“ oder „gescheitert“ bezeichnet. Nimmt man „nur“ die Fähigkeit eines Landes als Maßstab, sein Gewaltmonopol und das geltende Recht durchzusetzen, dann ist sogar die große Mehrheit der Staaten im internationalen System von begrenzter Staatlichkeit betroffen. Denn sie ist nicht allein in Entwicklungsländern und postkolonialen Gebieten zu finden. Auch in den Industrieländern existieren Räume, in denen der Staat kein Gewaltmonopol besitzt und nur eingeschränkt Recht durchsetzen kann.

Wie ist auf diese globale Epidemie staatlicher Zerfallsprozesse angemessen zu reagieren? Als Summe der Forschungsergebnisse ihrer Mitautoren formulieren die Herausgeber wertvolle, da realistische Empfehlungen. Sie warnen vor der Anmaßung, westliche Demokratievorstellungen auf prekäre Staaten zu projizieren und zu versuchen, bestehende Machtstrukturen vor Ort im Schnellverfahren zu transformieren. Um der Sicherheit und Stabilität willen sei es zweckdienlicher, die landeseigenen Ansätze zu unterstützen und so zu beeinflussen, dass die Chancen für inklusive und legitime Staatswerdung steigen. Diese auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene angelegte und auf semistaatliche Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, Gewerbe-, Agrar- und Finanzunternehmen ausgerichtete Entwicklungszusammenarbeit brauche einen langen Atem. Zugleich mahnen sie, die Signalwirkungen von Abzugsterminen zu bedenken und sich nicht aus der Affäre zu ziehen, indem mit zu schnellen Wahlen pseudodemokratische Fassaden errichtet werden.

Vielleicht hat aber auch Gene Sharp recht, der seiner Regierung in Washington in unmissverständlichen Worten geraten hat, sich aus Krisenregionen wie in Nordafrika selbst dann herauszuhalten, wenn Menschen jahrzehntelang leiden sollten: „So ist es nun mal. Wenn die Bevölkerung ihre Situation nicht ändern will, es keine unabhängigen Institutionen gibt, die Menschen ängstlich sind oder Gewalt anwenden, dann werden sie nicht gewinnen.“

Doch ob der nach dramatischen Nachrichten süchtige Westen für ein derart passives Verhalten mental gerüstet ist, bleibt mehr als fraglich. Es sollte zu denken geben, wenn der mediale Mainstream in Europa und Amerika, der die Intervention in Afghanistan für einen schweren Fehler hält, nach ein paar Wochen blutiger Kämpfe in Libyen westliches Militär in Tripolis sehen will. Was denn nun? Raus oder rein in zerfallende Staaten? Und nicht zuletzt: Nach dem 11. September 2001 schickte Berlin „uneingeschränkt solidarisch“ deutsche Soldaten nach Afghanistan. Doch wer will davon in Deutschland und Frankreich heute noch etwas wissen? Bliesemann de Guevara und Kühn weisen daher wie ihre Kollegen von der DGAP auch im Fall Libyen den richtigen Weg: Realitätssinn und Bescheidenheit sollten zu den außen- und sicherheitspolitischen Tugenden des Westens werden.

Berit Bliesemann de Guevara, Florian P. Kühn: Illusion Statebuilding. Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2010. 215 Seiten, 14 Euro.

J. Braml, T. Risse, E. Sandschneider (Hrsg.): Einsatz für den Frieden. Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Oldenbourg, München 2010. 488 Seiten, 49,80 Euro.

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