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Familienidyll. Magda Goebbels 1938 mit Helga, Hellmuth, Hedda, Hilde und Holde, die sie sieben Jahre später vergiftete.

© Ullstein

Nationalsozialismus und Moral: Braun und sauber?

Anständig geblieben? Raphael Gross legt Aufsätze vor über die fatale Verknüpfung von Moral und Verbrechen im Nationalsozialismus.

Die jüngst entflammte Debatte über die Rolle des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich zeigt es wieder einmal deutlich: Moral und Verbrechen waren bei den Nationalsozialisten von Anfang miteinander verknüpft. Raphael Gross schreibt dazu: „Die moralische Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen ist so alt wie diese selbst. Schon die Täter haben sich darum bemüht, eine moralische Haltung gegenüber den Verbrechen zu finden.“

Gross fügt den vielen tausend Büchern über das Dritte Reich nicht einfach ein weiteres hinzu, sondern er wählt einen innovativen Ansatz und versucht, durch eine Analyse der moralischen Urteile die nationalsozialistische Gesellschaft von innen zu verstehen. Der Zugriff auf die Moral ist dabei nicht zufällig, denn anders als in der marxistischen Ideologie, die sich vor allem auf ökonomische Kategorien stützt, spielen moralische Begriffe für den Nationalsozialismus eine zentrale Rolle. „Blut und Ehre“ heißt eines der Bücher des nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg. Rasse und Moral sind hier unauflöslich miteinander verknüpft.

Der Nationalsozialismus hatte ein dezidiert partikulares Moralsystem. Die erstrebte Volksgemeinschaft war exklusiv konzipiert. Wer zu ihr gehören konnte und wer nicht, richtete sich nicht nach territorialen, sondern nach ethnischen – im Jargon der Zeit „rassischen“ – Kriterien. In der Konsequenz war das nationalsozialistische Moralsystem nicht weniger exklusiv als die Gemeinschaft, die danach leben wollte. Himmler sagte in seiner berühmten Posener Rede vom 4. Oktober 1943: „Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem.“ Die partikulare Moral richtete sich scharf gegen den Universalanspruch der christlichen Nächstenliebe. Sie legitimierte sich nur gegenüber der eigenen Volksgemeinschaft und galt auch nur für sie. Deshalb war die systematische Ermordung von vielen Millionen Menschen zwar ein organisatorisches, aber kein moralisches Problem. Ein Legationsrat konnte deshalb auch guten Gewissens „Liquidation von Juden“ als Grund für eine Dienstreise in der Spesenabrechnung angeben.

Raphael Gross entfaltet seine moralphilosophischen Überlegungen an einer ganzen Reihe von Beispielen. Dabei interessiert ihn insbesondere auch die Kontinuitätsfrage, das Fortwirken der nationalsozialistischen Moral nach 1945. Das ist ein viel versprechender Forschungsansatz, denn ein Moralsystem ist viel tiefer implantiert als zum Beispiel ideologische Überzeugungen, die von vielen Menschen je nach politischer Großwetterlage gewechselt werden, gegebenenfalls auch mehrfach. Die einmal eingeimpfte Moral dagegen überlebt, auch ohne dass das den Betroffenen unbedingt bewusst ist. Gross zeigt das Phänomen der Kontinuität des moralischen Urteilens an ganz unterschiedlichen Protagonisten wie etwa dem Juristen Fritz von Hippel oder Hitlers Sekretärin Traudl Junge. Er kontrastiert Karl Morgen, der als SS-Chefrichter von Krakau auch für Auschwitz zuständig war, mit Kurt Gerstein. Der fanatische Nationalsozialist Morgen deutete seine Biografie nach der Kriegsniederlage mit großem Geschick um, ohne von seinen Grundüberzeugungen abrücken zu müssen. Im Entnazifizierungsverfahren zunächst als Hauptbeschuldigter angeklagt wird er am Ende vollständig entlastet, ja es gelingt ihm sogar, sich zum Widerstandskämpfer zu stilisieren. Die „Stuttgarter Nachrichten“ schrieben damals: „Im Krieg SS-Richter, blieb Morgen seinem Gefühl für Recht und Sauberkeit treu.“ Auch dieser Zeitungsbericht ist noch von nationalsozialistischen Moralbegriffen durchdrungen. Alfred Rosenberg hatte 1946 in Nürnberg den Nationalsozialismus als ein „Ideal blutbedingter kultureller Sauberkeit“ beschrieben.

Kurt Gerstein hätte sehr viel eher als Karl Morgen ein Anrecht darauf gehabt, als Widerstandskämpfer anerkannt zu werden. Als Hygiene-Fachmann der Waffen-SS war er in Mordaktivitäten involviert und unter anderem mit der Beschaffung von Zyklon B befasst. Aber er versuchte zugleich, Verfolgten zu helfen und Informationen über die Vernichtungsvorgänge ins Ausland zu bringen. Gerstein, der im Juli 1945 unter ungeklärten Umständen starb, wurde bei der Entnazifizierung postum als belastet eingestuft, kam also in die zweitschlechteste von fünf Kategorien. Erst sehr viel später begann seine Rehabilitierung, wozu nicht zuletzt Rolf Hochhuth mit seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ beitrug.

Die Gegenüberstellung von Morgen und Gerstein, die in vergleichbarer Position dem Naziregime dienten und beide mit Auschwitz zu tun hatten, ist sehr erhellend. Auf der einen Seite der Blutrichter mit dem notorisch guten Gewissen, das so viele Schwerverbrecher auszeichnete. Als der Ankläger Gideon Hausner Adolf Eichmann fragte, ob er jemals in seinem Leben ein schlechtes Gewissen gehabt habe, antwortete dieser: Ja doch, einmal, als er die Schule geschwänzt hatte. Gleichen Sinnes ist Kurt Morgen, wenn er 1964 schreibt, dass er auch in den schwärzesten Stunden jener dunklen Jahre nie den Glauben daran verloren habe, „dass die Redlichkeit meines Bemühens im Sinne der Menschlichkeit und eines höheren Rechtes doch anerkannt werden würde.“ Dieser Glaube wurde nicht enttäuscht und der Mörder blieb ohne Strafe. Kurt Gerstein dagegen war ein Mann, der von Skrupeln gepeinigt war, nicht genug gegen das fortschreitende Verhängnis getan zu haben, und womöglich – wir wissen es nicht – seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat.

Viel ist schon geschrieben worden über die Skandalrede, die Martin Walser 1998 bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehalten hat. Raphael Gross analysiert sie noch einmal mit dem von ihm entfalteten terminologischen Instrumentarium und kann zeigen, dass der Konflikt zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis aus dem Fortwirken moralischer Urteilsformen der NS-Zeit erklärt werden kann.

Die universelle Moral der alliierten Siegermächte wurde äußerlich adaptiert, die „Reeducation“ machte aus vielen Millionen Nazis brauchbare Bürger eines ganz anders gearteten Staates. Sie übernahmen von den Besatzern deren Wertesystem, nicht aber deren Art des moralischen Urteilens. Die nationalsozialistische Moral wurde überformt, aber sie verschwand nicht. So ist es zu erklären, dass nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des Holocaust das vorherrschende moralische Gefühl nicht Empörung war, sondern Scham. Wenn die Nachgeborenen sich für etwas schämten, das sie gar nicht selbst getan hatten, dann zeigt das, in den Worten des Autors, „dass sie sich auf eigenartige Weise immer noch der Gemeinschaft zugehörig fühlten, die das Bezugssystem der moralischen Gefühle geblieben war.“

Raphael Gross beschließt seine Aufsatzsammlung mit dem Wunsch, dass seine Pionierarbeit viele weitere Forschungen anregen möge. Er verweist zu Recht darauf, dass ein solcher moral-geschichtlicher Zugriff mit dem Versailler Friedensvertrag einsetzen muss, mit der Dolchstoßlegende und der Agitation gegen den „Schandfrieden“. Die damaligen Siegermächte wollten den deutschen Kaiser wegen „schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge“ vor ein internationales Gericht stellen, was daran scheiterte, dass Wilhelm II. Zuflucht in den Niederlanden suchte und die ihn nicht auslieferte. Die später vor dem Reichsgericht in Leipzig geführten Kriegsverbrecherprozesse waren der erste Versuch, Kriegsverbrechen juristisch zu bewältigen. Sie sollten einer internationalen Rechtsordnung zum Durchbruch verhelfen. Tatsächlich gerieten sie zur Farce.

Zum einem sehr viel eindrucksvolleren Versuch der Etablierung einer universellen Moral wurde dann 1946 der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg. Eines der furchtbarsten Dokumente der Anklage war Himmlers Posener Rede, in der er die Vernichtung der Juden als nicht zu tilgendes Ruhmesblatt der deutschen Geschichte gefeiert hatte. Die Alliierten versuchten, in Nürnberg einer neuen, dem Völkerfrieden verpflichteten Weltordnung Geltung zu verschaffen. Viele Deutsche schmähten den Prozess als „Siegerjustiz“, Karl Jaspers war einer der wenigen prominenten Denker, die ihn verteidigten. Gerungen wird um die Normen für eine universelle Moral und die Mittel für ihre Durchsetzung bis heute. Eine Alternative dazu gibt es nicht.







Raphael Gross:

Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. S. Fischer

Verlag, Frankfurt am Main 2010, 277 Seiten, 19.95 Euro.

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