zum Hauptinhalt

Kultur: NBI: Das Fiepen der Cassetten-Orgel

Für manche Dinge gibt es eine einfache Erklärung: "Wenn Pink Floyd am Synthesizer eine Einstellung gefunden hatten, die ihnen gefiel, dann fixierten sie die Regler und Knöpfe mit Klebeband und kauften sich ein neues Gerät. Das konnte sich halt nicht jeder leisten.

Für manche Dinge gibt es eine einfache Erklärung: "Wenn Pink Floyd am Synthesizer eine Einstellung gefunden hatten, die ihnen gefiel, dann fixierten sie die Regler und Knöpfe mit Klebeband und kauften sich ein neues Gerät. Das konnte sich halt nicht jeder leisten." So begründet Wolfgang Seidel, ehemals Drummer bei Ton Steine Scherben, die Erfindung der Kassettenorgel durch Conrad Schnitzler. "Ein Mini-Moog kostete damals 5000 Mark. Dafür bekam man fast einen neuen VW-Käfer." Kassettenrecorder waren bedeutend billiger. Also fing der frühere Soundtüftler von Tangerine Dream Anfang der siebziger Jahre an, Synthesizer-Sounds, die er für brauchbar hielt, auf Kassette aufzunehmen. Um die Töne übereinander abspielen zu können, stattete er sich mit einem Dutzend Kassettenrecordern aus, mit denen er nacheinander oder gleichzeitig die erwünschten Töne abrufen konnte.

Das Verfahren war genauso praktisch wie visionär: Tatsächlich handelt es sich um einen analogen Vorläufer des Samplers. Umso mehr, als Schnitzler versuchte, sich selbst auf der Bühne überflüssig zu machen. Das Drücken der Tasten überließ er bei Live-Performances zunehmend anderen. So wurde die Musik im Moment ihrer Aufführung vom Musiker unabhängig, und Schnitzler nahm die DJ-Kultur vorweg.

Der ehemalige Beuys-Schüler stieg 1970 bei Tangerine Dream ein und drängte die gitarrenorientierte Rockgruppe zu elektronischen Experimenten. Herkömmliche Instrumente, wie Flöte und Cello, versah er mit Tonabnehmern, um bisher ungehörte Klänge zu erzeugen. Auf der Suche nach neuen Tönen schleppte er schließlich einen Flipper auf die Bühne, in dem er ein Mikrofon befestigt hatte. Die Trennung von den Kollegen erfolgte, als er Klaus Schulze drängte, das Schlagzeug gegen Hammer und Amboss einzutauschen. Doch seine Ideen wirkten fort: Tangerine Dream wurden zu einer der international renommiertesten Elektronikbands.

Bevor sich der große Erfolg einstellte, teilten sich Tangerine Dream und Ton Steine Scherben einen Probenraum, den ehemaligen Club von Drafi Deutscher im heutigen Ballhaus Rixdorf am Kottbusser Damm. Als Ton Steine Scherben keinen Plattenvertrag bekamen, wurden sie von Schnitzler ermutigt, ihre Musik selbst zu vertreiben, denn er produzierte schon länger nach dem Independent-Prinzip. Für die Polit-Rockband der ideale Weg, sich von der Schallplattenindustrie zu emanzipieren. Die Platten mit Hilfe von Raubdruckern zu pressen und vom Lastwagen herunter an die Händler zu verkaufen, war authentischer Antikapitalismus - aber nicht frei von Problemen: Als Rio Reiser 1972 beschloss, man solle nicht nur gemeinsam Musik machen, sondern auch zusammen wohnen, stieg Wolfgang Seidel aus.

Da ihn auch die mangelnde musikalische Experimentierfreudigkeit bei Ton Steine Scherben gestört hatte, verband er sich mit Schnitzler. Es blieb bei einer Veröffentlichung. Doch soll jetzt ein zweiter Versuch bei Plate Lunch erscheinen: ein Tribute Album für Conrad Schnitzler. Einen Song wird Wolfgang Seidel gemeinsam mit Britta, der Nachfolgeband der Lassie Singers, beisteuern, und den Gesangspart übernimmt ausgerechnet Schnitzler. Garantiert ohne Gesang kommt ein Konzert Wolfgang Seidels aus, das mit Hilfe der Kassettenorgel - die Kassetten sind mittlerweile durch CDs ersetzt - Schnitzlers Elektronik-Oeuvre der letzten 30 Jahre vorstellen wird.

Nicholas Körber

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false