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Kultur: "Neapel oder die Reise nach Stuttgart": Ein Stein flog durch die Panoramascheibe

Das Glück, kann sein, ist ein Kreisel, der auf seiner Spitze tanzend kreiselt. Der Kreisel wird abstürzen, der Moment des Glücks ist endlich.

Das Glück, kann sein, ist ein Kreisel, der auf seiner Spitze tanzend kreiselt. Der Kreisel wird abstürzen, der Moment des Glücks ist endlich. Niemand fühlt den Schmerz darüber schärfer, als die Person, die das banal-beredte Bild wählt: Katharina Studer, eine Haus- und Biederfrau aus dem Schwäbischen. Über das Glück denkt sie seit kurzem erst nach. Ihr Leben hat die Gattin und Mutter zweier Söhne, unangefochten von heftigeren Sehnsüchten, zwischen Schmutzwäsche und Broccolicremesuppe im Eigenheim an einem der Hänge rund um Stuttgart verbracht. "Auf Viertelshöhe", für weiter oben reichte Herbert Studers Einkommen nicht. Aber immerhin, unverbaubarer Blick. Panoramascheibe. Nun ist nach all den Jahren aber doch etwas geschehen, das Frau Studer aufschreckt und in neue Dimensionen der Wahrnehmung katapultiert. Warum sonst griffe sie plötzlich zur Feder, um vor einer Freundin, die sie seit der Schulzeit weder gesehen noch vermisst hat, in einem Brief das bisherige Leben auszubreiten - als ein verfehltes? Da gibt es mehr zu erzählen als nur von ihrer Reise nach Neapel, die sie nach 20 Jahren zum zweiten Mal gemacht hat (die erste war wohl die Hochzeitsreise), und warum diesmal alles anders gewesen ist.

"Neapel oder die Reise nach Stuttgart" ist ein Monolog. Hans Neuenfels hat ihn für Elisabeth Trissenaar geschrieben, die als Katharina Studer rückblickend ein ganzes Leben in Stimmungen durchlebt. Der Brief, scheint es, ist längst geschrieben, er wird in der Stuttgarter Uraufführung nur rekapituliert. Elisabeth Trissenaar kommt aus der Tiefe des Hauses angefahren auf einem Laufband, wie man sie in Flughäfen hat. Im Bühnenvordergrund befindet sich eine Lounge, in die Natascha von Steiger viele rote Sessel gestellt hat, deren Reihen sich prächtig eignen, Frau Trissenaars Gängen Struktur zu geben. Die Adressatin des Briefs, die "liebe Charlotte", dürfen wir uns in einer hinteren Reihe links von der Mittelachse sitzend vorstellen. Der gewählte Ort zeigt es an, auch der Umstand, dass die Schauspielerin ihren Mantel nie ablegt, unterstreicht: Wir haben es zu tun mit einer Frau auf der Durchreise, die im Aufbruch ist oder auf dem Absprung. Alles hat damit angefangen, dass Ferdinand, der jüngere der beiden Söhne, sicher der geliebtere, einen Stein durch die vorerwähnte Panoramascheibe warf. Von Stund an war Zug in der guten Stube.

Nicht sein schärfster Kritiker könnte dem regieführenden Autor Neuenfels vorwerfen, es mangele seinem Text an Eindeutigkeit. Schwäbische Hausfrauen, vermuten wir mal, gehören nicht zu den Personen seines täglichen Umgangs (aber von normannischen Hausfrauen hätte man das in Bezug auf Flaubert auch behaupten können). Also gibt er sich größte Mühe, die Duftmarken der Spießbürgerlichkeit ordentlich über den Text zu verteilen. Einmal, da ist Katharina schon weit fortgeschritten in ihrer großen Kehre, entringt sich ihr der Wunsch, jemand möge sie befreien von ihren Klischees, und wenn wir mal annehmen, Neuenfels "sei" Frau Studer (wie Flaubert Madame B. war), dann steckt viel Wahheit in dem Seufzer.

Die Panoramascheibe also. Was immer man ästhetisch gegen sie vorbringen kann, eigentlich ist sie doch ein unschuldiges Ding. In Katharinas Ausführungen wird sie zum Inbild ihres angepassten Elends, sie symbolisiert die Barriere, die diese Frau vom brausenden Leben trennt. Was aber nun wirklich passiert ist: Eines Tages kurz nach seinem Steinwurf teilt Ferdinand den Eltern mit, dass er schwul sei, wenig später outet sich auch noch der ältere Bruder als homosexuell, was einen Unterschied macht, wie es scheint. "Meine Söhne sind verschieden", jubelt die Mutter, unter Tränen. Sie hat es seit kurzem kommen sehen, seit sie das Heftchen mit männlichen Pinups in Ferdinands Turnbeutel fand. Und indem sie geistig mit diesem Phänomen ringt, bringt sie unversehens die eigene bleierne Unschuld zum Vorschein. Voilà die Krise: Die Kleinfamilie im Clinch mit der Triebnatur. Für Herbert, den Gatten und Vater, ist es ein Schlag, von dem sich seine Männlichkeit nicht wieder erholt, für Katharina ein Befreiungsschlag. Seither träumt sie vm wilderen, gefährlicheren Leben. "Ich bin eine Hausfrau aus Stuttgart, versetzt in in eine griechische Tragödie", sagt sie einmal. Das ist natürlich satt übertrieben. Und außerdem verhält es sich genau umgekehrt.

Wir haben eine Tragödin vor uns, die es an den deutschen Mittagstisch verschlagen hat. Das wird nach der Pause deutlich. Neuenfels spannt das eigene Stück mit der Erzählung "Meine Mutter" von Georges Bataille zusammen. Den späten Text des Surrealisten und Propheten des Heiligen Eros hat er um alle interessanten Orgien gekürzt und ganz auf die Mutter-Sohn-Dialoge konzentriert, auf dass Elisabeth Trissenaar zeige, was in einer Frau wie Katharina Studer stecken könnte, wenn man sie nur ließe. Als "eine Wilde", wenn auch bloß eine "gut erzogene" hat sie sich schließlich von uns verabschiedet. Im zweiten Teil des Abends ist Elisabeth Trissenaar nun eine bleiche Furie, ein Verhängnis in plissierter Seide. Die Dame Hélène hat den Kelch der Ausschweifung bereits bis zur Neige geleert und schickt sich nun an, ihrem postpubertären Sohn den Pfad des Lasters zu weisen. Erzähler ist, wiederum retrospektiv, der Sohn.

Parallelität der Konstruktion hätte wohl nahegelegt, den Erzähler - wie im ersten Teil die Erzählerin - zum aufarbeitenden Durchleben alleine auf die Bühne zu schicken. Aber einmal ist schwer vorstellbar, wie ein junger Schauspieler an Neuenfels / Trissenaar herantritt mit der Bitte: "Lasst mich die Löwin auch spielen". Und dann bliebe ja auch verborgen, wie sehr die dressierte Kleinbürgerin als Mängelwesen auf die ungezähmte Nymphomanin der Belle Epoque bezogen ist. Das gewählte Ambiente ist in schwarzem Samt ausgeschlagen, die Mutter kommt und geht auf bloßen Sohlen, gurrt, girrt und lockt kehlig lachend, indes Kai Schumann sein Bestes tut, als eine Mischung aus Chorknabe und Satyr mit halbgeöffnetem Mund und gespreizten Händen die Ohnmacht des Begehrens zu verkörpern. Liebe und Tod, Schuld, Schmach, Schande: rein szenisch gesehen sind das eine Menge steiler Behauptungen, das bleiben sie. Denn zuletzt wie zuerst raschelt auch hier - allein das Papier.

Dorothee Hammerstein

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