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Kultur: Negatives Mysterium - Woran starb Primo Levi vierzig Jahre nach Auschwitz?

Als Primo Levi am 11. April 1987 zerschmettert im Treppenhaus seines Wohnhauses aufgefunden wurde, schien allen klar: Auch dieser leise und so unverbrüchlich an seinen moralischen Maßstäben festhaltende Holocaust-Überlebende hatte Hand an sich gelegt, war an den Folgen seiner Auschwitz-Erlebnisse zu Grunde gegangen.

Als Primo Levi am 11. April 1987 zerschmettert im Treppenhaus seines Wohnhauses aufgefunden wurde, schien allen klar: Auch dieser leise und so unverbrüchlich an seinen moralischen Maßstäben festhaltende Holocaust-Überlebende hatte Hand an sich gelegt, war an den Folgen seiner Auschwitz-Erlebnisse zu Grunde gegangen. Und doch blieben Zweifel. Hatte er nicht immer gegen den Selbstmord angeschrieben, den er für "eine falsche Selbstbestrafung" hielt?

"Man brauchte sich nicht mit Selbstmord für eine (wirkliche oder vermeintliche) Schuld zu bestrafen, da man sie ja bereits mit der täglichen Qual abbüßte", schrieb Levi in "Die Untergegangenen und die Geretteten". Und jetzt schien er doch in das schwarze Loch seiner Erinnerungen gefallen zu sein, wie vor ihm Paul Celan, Bruno Bettelheim und sein Freund Jean Améry.

Die französische Journalistin Myriam Anissimov umkreist diesen finalen Treppensturz in ihrer Levi-Biografie wie eine magische Leerstelle, ein negatives Mysterium. Zwar hatte Levi im Alter immer wieder schwere Depressionen durchlebt und erholte sich nur langsam von einer Operation. Dennoch schien es absurd, dass sich der 67-jährige Rationalist, der sich gegenüber Familie und Gesellschaft immer verantwortlich gefühlt hatte, ohne Nachricht und spontan das Leben nehmen würde.

Tödliche Krankheit Auschwitz

Cognitive trap, Wahrnehmungsfalle, nennt Diego Gambetta im Boston Review die Überzeugung, Levi habe Selbstmord begangen. Wenn Elie Wiesel sagt, Levi sei "40 Jahre später an Auschwitz gestorben", dann meint das: Jeder Lagerinsasse wurde im KZ mit einer Krankheit zum Tode infisziert, die mit unterschiedlicher Inkubationszeit irgendwann ausbricht. Gambetta kämpft gegen diese Vorstellung vom unerbittlich sich erfüllenden Schicksal der Überlebenden, die wie in Trance an sich selber ein Todesprogramm erfüllen, dass die Nazis ihnen in die Seele tätowierten. Levi habe gar nicht Selbstmord begangen, meint er. Starke Medikamente hätten einen Schwächeanfall ausgelöst. Levi habe das Gleichgewicht verloren und sei über das Geländer gefallen.

Hinter dieser Argumentationskette, die letzten Endes nicht überzeugt, steckt ein großes Unbehagen: Nicht einmal der erklärte Optimist und rationale Naturwissenschaftler war dem Todesruf des KZ entkommen. Wer, wenn nicht Levi, hätte dem seelischen Sog von Auschwitz widerstehen sollen? Sein Freitod erscheint wie der endgültige Sieg der Nazis über die von Levi so vehement verteidigte Würde des Menschen.

Einen vielversprechenderen Ausweg aus der Wahrnehmungsfalle weist Anissimov in ihrer Levi-Biografie. Sie ist vom Selbstmord überzeugt, sieht aber nicht Auschwitz als Auslöser. Das Zusammenleben mit seiner "gelähmten, tyrannischen, altersschwachen Mutter von 91 Jahren und seiner blinden Schwiegermutter" habe zu Spannungen mit seiner Frau Lucia geführt und seine Lebenssituation unerträglich gemacht. Levi, der sich nach seiner Pensionierung als Chemiker endlich frei fühlte, Einladungen aus aller Welt anzunehmen und eine späte literarische Anerkennung zu genießen, sei ein Gefangener seines Verantwortungsbewusstseins geworden. Er habe sich einfach nicht entschließen können, angesichts seines eigenen fortgeschrittenen Alters, die alten Damen in ein Heim zu schicken.

Trotz überzeugender Argumente beschwört Anissimov jedoch weiter das große "Rest-Geheimnis". Ein allzu durchsichtiges Kalkül. Versucht sie doch ein Leben mit Rätselhaftigkeit aufzuladen, dessen dramatische Stationen Levi selber in seinen Büchern ausführlich beschrieb, und das nach dem Krieg unspektakulär und unauffällig blieb.

Es ist eine eigentümliche Sesshaftigkeit, die diesem passionierten Bergsteiger und überzeugten Naturwissenschaftler anhaftete: Er lebte bis zuletzt in seinem Geburtshaus, unterbrochen nur von den Kriegswirren und jener außerhalb der Zeit stehenden Zwangsinternierung in Auschwitz. "Meine Universität" hat Levi das Konzentrationslager oft genannt. Wenn ihm aber im Alter das Leben nur noch als graues Einerlei erschien, erinnerte er sich des langen Sommers der Anarchie nach seiner Befreiung Ende Januar 1945. In "Die Atempause" hat er jene somnambule Zugreise durch die Weiten des zerstörten Nachkriegs-Russland und Osteuropas geschildert, die ihn erst im Oktober zurück zur Familie nach Turin führte. Damals sei die Welt noch voller Möglichkeiten gewesen, meinte er und verklärte damit den kleinen Zipfel Jugend, der ihm vergönnt war.

Pathologischer Erzählzwang

All dies beschrieb Levi in seinen autobiografischen Werken. Es bedarf nur der Nacherzählung, um diese Stationen lebendig werden zu lassen. Allenfalls mit einigen Korrekturen dort, wo Levi die eigenen Erlebnisse verfremdete. Sobald Anissimov jedoch den von Levi öffentlich gemachten Teil seines Lebens verlässt, wird die Biografie seltsam zweidimensional. Trotz einer beeindruckenden Materialfülle scheitert sie an der Verschwiegenheit Levis, die dieser einmal als die "traditionelle doppelte Zurückhaltung" der Turiner Juden beschrieben hat: Die "unitalienische" Zurückhaltung der Piemontesen, gesteigert durch die Verschwiegenheit der Juden, die "immer viel anhören und wenig sprechen" mussten, um nicht negativ aufzufallen. Der penible Chronist von Auschwitz, der kleinste Details seines Lebens im KZ berichtete, behielt sein Seelenleben und seine Privatsphäre immer für sich.

Anissimov gelingt es nur selten, die Verhältnisse im Hause Levi zu rekonstruieren. Besonders Levis Frau gewinnt keine Konturen, wird kaum je erwähnt. Und doch spielte sie eine so große Rolle in seinem Leben. Denn Lucia Morpurgo war nicht nur die erste, bei der es dem schüchternen "Outcast" gelang, seine Hemmungen gegenüber Frauen zu überwinden. Sie war es auch, die Levi durch unermüdliches Zuhören von einem KZ-Trauma befreite, das ihn im Schlaf verfolgte: Nach Hause zu kommen und keinen Zuhörer zu finden für seinen, wie er schrieb, "absolut pathologischen Erzählzwang".

Tödliches moralisches Dilemma

Die Biografie ist ein in Italien wenig gepflegtes Genre. Meist sind es Briten, oder wie in diesem Falle eine Französin, die berühmte Italiener biografisch würdigen. Schon im Original Übersetzungsarbeit leisten zu müssen entschuldigt nicht, erklärt aber vielleicht die vielen Ungenauigkeiten, die sich Anissimov bei geografischen Bezeichnungen leistet. Für den Leser ärgerlicher sind die häufigen Redundanzen. Hier hätte mehr Lektorierung Not getan, wie auch bei den oft lieblosen Pflicht-Passagen, in denen Anissimov das historische Umfeld versucht zu rekonstruieren.

Levi war da bei seinen eigenen Werken wahrlich skrupolöser. Klarheit im Ausdruck und Verständlichkeit waren ihm alles, akribisch suchte er nach der zutreffendsten Formulierung. Bevor er überhaupt ein Manuskript einem Lektor gab, hatten es schon Freunde gelesen und redigiert. Die Klarheit der Gedanken und Formulierungen war nicht nur Ausdruck des Respektes gegenüber seinen Lesern, sondern entsprang einem moralischen Impuls, der Levis ganzes Leben und Schaffen durchdrang. Zwar beunruhigte ihn der aufkommende Revisionismus Noltescher Prägung tief. Und sicherlich hat die Auschwitz-Erfahrung Levis seelische Abwehrkräfte geschwächt. Der Selbstmord ist aber wohl doch Ausdruck eines moralischen Dilemmas: Sein Gewissen erlaubte ihm nicht, die Mutter wegzuschicken. Doch dass die eigene Wohnung ihm zum Gefängnis wurde, mochte Primo Levi auch nicht länger ertragen.Myriam Anissimov: Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Philo Verlag, Berlin 1999. 638 Seiten, 59,80 DM.

Marco Belpoliti: Primo Levi, Gespräche und Interviews. Carl Hanser Verlag. München 1999. 287 Seiten, 39,80 Mark.

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