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Nelly Sachs

© Literaturforum Brecht-Haus

Nelly-Sachs-Woche in Berlin: Sternverdunkelung

Schmerz der Erinnerung: Das Literaturforum Brecht-Haus feiert die Dichterin Nelly Sachs.

Ein kleiner Holztisch und ein Hocker in der sechs Quadratmeter großen Küche mit Ausblick auf den Stockholmer Industriehafen. In dieser „Kajüte“ lebt und schreibt sie, meist nachts, um die kränkliche Mutter nicht zu stören. Sie navigiert sich durchs Schmerzland ihrer Erinnerung und ihres Volks, die „nächtliche Dimension“ nannte sie es. Eine „Urszene der Poesie“, beschreibt es Aris Fioretos, der in einem anderthalbstündigen Vortrag, ohne jede Notiz, den Kosmos der Nelly Sachs kenntnisreich und feinfühlig umkreist und entdeckt. Ihr Leben begann 1891 in einer großbürgerlichen assimiliert-jüdischen Familie im „neppischen“ Berliner Westen und endete nach 30-jährigem Exil in der schwedischen Hauptstadt.

1966 bekam sie den Nobelpreis

Gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Carola Opitz-Wiemers, folgt er zum Auftakt der vom Literaturforum Brecht-Haus ausgerichteten Nelly-Sachs- Woche den Spuren einer Dichterin, die vielen nur noch als erste deutsche Literaturnobelpreisträgerin in Erinnerung ist. Ein „repräsentativer Preis“, urteilt Fioretos, schwedischer Schriftsteller mit griechisch-österreichischen Wurzeln, der, gerade erst in Deutschland angekommen, gelegentlich nach einem Wort sucht, aber nie den Erzählfaden verliert.

Denn zumindest in Westdeutschland tat man sich schwer mit dieser ungewöhnlichen Lyrikerin. Zwar wurde ihr 1947 im Aufbau-Verlag erschienener Gedichtband „In den Wohnungen des Todes“ gut aufgenommen, doch schon „Sternverdunkelung“ (1949) musste eingestampft werden. Die Deutschen, sagt Fioretos, hatten die „Stunde Null“ ausgerufen, von dem, wovon Sachs berichtete, wollten sie nichts mehr wissen. Erst ab Ende der fünfziger Jahre begannen Hans-Magnus Enzensberger, Alfred Andersch oder Peter Hamm, ihr zuzuhören, und beginnend mit dem 1960 verliehenen Droste-Preis in Meersburg, der die Exilantin erstmals wieder nach Deutschland brachte, wurden ihr die roten Teppiche ausgerollt.

Mit 50 Jahren begann ihr Aufstieg

Dabei ist Nelly Sachs eine Ausnahmeerscheinung, denn das, was ihr preiswürdiges Werk ausmacht, entstand erst nach ihrem 50. Lebensjahr, obwohl sie schon in der Berliner Zeit begonnen hatte zu dichten. Zwei einschneidende Ereignisse sind es, die das Schreiben zur Überlebenstätigkeit werden lassen. Als 17-Jährige verliebt sie sich in einen älteren Mann, der ihre Liebe jedoch nicht erwidert. Um diesen zum „Bräutigam“ verklärten Unbekannten kreisen viele spätere Gedichte. Als 1930 der geliebte Vater, ein Gummiwarenfabrikant, stirbt und kurz darauf die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, kümmert sich Sachs um die Mutter, bis sie mit dieser, in allerletzter Minute, 1940 nach Schweden fliehen kann. Selma Lagerlöf, mit der sie in Kontakt steht, schreibt ihr die notwendige Empfehlung.

Den Absturz aus dem behüteten Dasein in die Kälte des von materieller Not und Fremdheit geprägten Exils meistert Sachs erstaunlich gut. Sie übersetzt, arbeitet sich durch die gesamte schwedische Literatur, und das, was für viele exilierte Schriftsteller unüberwindbar ist, die fremde Sprache, wird für sie zur Chance. An der Übertragung der schwedischen Moderne schult Sachs ihre Sprache, sie löst sich aus den bisher gepflegten Konventionen, ohne das Schwedische wäre die Verwandlung, dieses Eindringen in den „Äon des Schmerzes“, der „durchlitten werden muss“, wie Opitz-Wiemers die Dichterin zitiert, vielleicht gar nicht möglich gewesen. „Als ich deine Gedichte las“, schreibt die ebenfalls ins Exil getriebene Hilde Domin an die Kollegin, „hast du meine Toten bestattet, ihnen eine Stimme gegeben.“

Die Angst, verfolgt zu sein

Trennung, so Fioretos, sei das Grundthema in den Gedichten von Nelly Sachs. Das bezieht sich sowohl auf ihr individuelles Schicksal als auch auf das des jüdischen Volks. Immer wieder hat sich die Inspirationskraft von Musikern an der rhythmischen Qualität dieser Gedichte entzündet und an ihrer „rätselhaften Konkretion“ (Fioretos): „Ich wasche meine Wäsche/Viel Sterben im Hemd singt/da und dort Kontrapunkt Tod/Die Verfolger haben ihn mit Hypnose eingefädelt/und der Stoff nimmt willig auf im Schlaf.“ Diese Verfolger wird Nelly Sachs zeitlebens nicht mehr los, Verfolgungswahn und psychische Leiden begleiten sie bis zu ihrem Tod.

Weitere Veranstaltungen bis Freitag, 6. Juli. Informationen: http://lfbrecht.de/event/nelly-sachs-woche

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