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Szene aus "Die lächerliche Finsternis" von Dušan David Pařízek

© Reinhard Maximilian Werner / Theatertriffen

Neue Dramatik beim Theatertreffen: Von wegen Papi und Pimmel

Da hat sich etwas verändert: So viele neue Stücke und Uraufführungen gab es beim Theatertreffen noch nie. Die neue Dramatik findet neue Themen und ist viel besser als ihr Ruf.

Claus Peymann, BE-Chef und geschätzter Hauptstadt-Entertainer, hat eine klare Haltung zur jüngeren Gegenwartsdramatik. „Die reine Flucht ins Private“, stöhnte der 77-Jährige vor einiger Zeit in einem Zeitungsinterview auf. „Es ist immer das Problem, das die Autoren mit ihrer Großmutter haben oder dem Papi oder ihrem Pimmel.“ Im Prinzip wird dieses Attest der Gegenwartsdramatik auch auf jedem Branchen-Symposium ausgestellt. Es reüssiert dort seit Jahrzehnten unter den Schlagworten „Nabelschau“ und/oder „mangelnde Welthaltigkeit“.

Betrachtet man nun daraufhin den aktuellen Dramenjahrgang, also die knapp 100 Stücke, die in dieser Saison im deutschsprachigen Raum uraufgeführt wurden, Romanadaptionen exklusive, fällt das Resultat ziemlich überraschend aus. „Der Pimmel“ als solcher ist gegenwartsdramatisch praktisch inexistent. Und auch „dem Papi“ und „der Großmutter“ ergeht es nur unwesentlich besser. Das hat sich erledigt.

Denn tritt in einem zeitgenössischen Theatertext tatsächlich mal ein hauptberufliches Familienmitglied auf, dann in aller Regel nicht zum Privatvergnügen, sondern zum höheren gesellschaftsdiagnostischen Zweck. So setzt die Großmutter etwa in Ewald Palmetshofers Stück „die unverheiratete“ ein komplexes Dramenpuzzle über Schuld, Geschichtsbewusstsein und Erinnerung in Gang. Als junge Frau, kurz vor Kriegsende, denunzierte sie einen Wehrmachtssoldaten, der laut übers Desertieren nachgedacht hatte und daraufhin exekutiert wurde. Aus verschiedenen Perspektiven und unter wohltuendem Verzicht auf küchenpsychologische Instant-Erklärungen blättert Palmetshofer auf, wie diese Nazi-Kollaborationsschuld in die nachfolgenden Generationen einsickert.

Theatertreffen präsentiert neue Texte

„Die unverheiratete“ ist nur eine von fünf Uraufführungen, die es dieses Jahr in die Auswahl des Berliner Theatertreffens geschafft haben. Damit basiert die stolze Hälfte der bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison auf neuen Texten. Mit den Mülheimer „Stücken“, dem wichtigsten Festival für deutschsprachige Gegenwartsdramatik, feiert die Berliner Branchenleistungsschau 2015 einen historischen Überschneidungsrekord. Ganze vier Aufführungen – neben der „unverheirateten“ auch Elfriede Jelineks Flüchtlingsklagechor „Die Schutzbefohlenen“, Wolfram Lotz’ Polit-Farce „Die lächerliche Finsternis“ und Yael Ronens Kriegs-Recherche „Common Ground“ – sind sowohl nach Mülheim als auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Gut möglich, dass der globale Krisen-Status-quo verstärkt (dramatische) Existenzen hervorbringt, für die das Private notgedrungen auf eine unmittelbarere Art politisch ist, als ihnen lieb sein kann. Jedenfalls haben derzeit nicht nur dokumentarische Rechercheprojekte Konjunktur, die Weltgeschichte auf der Bühne in konkreten Darstellerbiografien spiegeln wie eben „Common Ground“. Sondern es stehen auch, wenn man die im engeren Sinne fiktionalen dramatischen Neuerscheinungen durchblättert, statt „Papi, Pimmel, Großmutter“ eher Flüchtlingsdramen, der NSU oder realkapitalistische Systemanalysen auf der Agenda der Stückeschreiber.

Jeder blamiert sich, so gut er kann

Wolfram Lotz’ „Lächerliche Finsternis“, in der sich zwei Bundeswehrsoldaten durch ein fiktives Krisengebiet schlagen und eine hochnotkomische Parade westlicher Selbstgerechtigkeit vorfinden, ist seit ihrer grandiosen Urinszenierung durch Dušan David Parízek im Herbst 2014 an der Wiener Burg bereits in fünf Häusern nachinszeniert worden. So viel zum hartnäckig kolportierten Image des Gegenwartsstückes als Eintagsfliege, das vom Regieassistenten ad hoc auf die Hinterbühne gehauen wird und spätestens nach fünf Vorstellungen im Orkus verschwindet!

Bei Lotz blamiert sich jeder, so gut er kann, bis auf sein eurozentristisches Knochengerüst: vom italienischen Uno-Kommandanten, der in der Wildnis schmerzlich das Internet vermisst, bis zum US-amerikanischen Missionar, der den Islam vor allem deshalb für hochgradig indiskutabel hält, weil er „die Mädchen zwingt, ihre herrlichen schlanken Beine zu verhüllen“. Gegenwartsdramatiker reflektieren derzeit mit hoher Diskursfitness, wie man Bürgerkriege oder Flüchtlingsdramen überhaupt auf die Bühne bringen kann.

Gegenwartdramatik beweist hochtouriges Nachdenken

Das beste Beispiel für dieses hochtourige Nachdenken ist neben der „Lächerlichen Finsternis“ Elfriede Jelineks Textfläche „Die Schutzbefohlenen“. Im Übrigen liegt Jelinek auch mit ihrem Aischylos-Bezug voll im Trend: Mit sachkundig-lässiger Hintergründigkeit frequentieren Theaterautoren (literatur-)historische Sprungbretter. Die „Lächerliche Finsternis“ rekurriert auf Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ und Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsfilm „Apocalypse now“. Und Rebekka Kricheldorf – eine Autorin, die zwar nicht beim Theatertreffen, dafür aber in Mülheim zu sehen ist – hat mit „Homo Empathicus“ ein hochnotkomisches Universum der Hyperkorrekten entworfen, gegen das Aldous Huxleys Dystopie-Klassiker „Schöne neue Welt“ geradezu paradiesisch wirkt.

Wer bei Kricheldorf seinen Job verliert, zerschlägt nicht etwa das Firmenporzellan, sondern ergeht sich in empathischen Freudensprüngen für seinen Nachfolger und ist dem Chef, der ihn gefeuert hat, unendlich dankbar „für die längst fällige Chance auf eine Neuorientierung“. Anno 2015 regelt er das eigeninitiativ über eine Art mentale Wellness-Selbstzensur: Was nicht sein darf, wird einfach nicht benannt beziehungsweise, in besonders hartnäckigen Fällen, mit Hilfe eines Mentalcoachs restlos „weggesprochen“.

Wer diesen Abend gesehen hat, dürfte sich künftig schwertun, der Gegenwartdramatik zu unterstellen, dass sie der Jetztzeit grundsätzlich zehn Meter hinterherlaufe!

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