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Nachdem er letztes Jahr in Frankfurt die Poetikvorlesungen hielt, ist Star-Autor Kehlmann mit einer kurzen Erzählungen zurück.

© dpa

Neue Erzählung von Daniel Kehlmann: Die Geister, die er rief

Ein Drehbuchautor fährt mit seiner Familie ins Gebirge. Erst beginnt ein Streit, dann ein Spuk: Zeit und Raum verschieben sich in Daniel Kehlmanns neuer Erzählung „Du hättest gehen sollen“.

„Kommt, Geister!“ Mit einem Zitat aus Shakespeares „Macbeth“ überschrieb Daniel Kehlmann letztes Jahr seine Frankfurter Poetikvorlesungen. Es ging dabei um die Gespenster der deutschen Vergangenheit, die sich aus den Ritzen des Ungesagten erhoben. „Vergessen ist eine anstrengende Übung“, schrieb er damals; alles Verdrängte spreche sich durchaus laut aus. Dass er sich dabei eindrücklich mit Jeremias Gotthelfs gruseliger „Schwarzer Spinne“ beschäftigte, ließ vermuten, dass er bald selbst eine Gespenstergeschichte schreiben würde. Und tatsächlich: „Du hättest gehen sollen“ funktioniert nach allen Regeln des Genres, wonach kleine Verschiebungen in der Wahrnehmung ausreichen, um die gesamte Realität zum Einsturz zu bringen. Und am Ende triumphieren die Geister.

Der schlichte Rahmen erinnert an Stanley Kubricks „Shining“. Ein Paar mit einer vierjährigen Tochter hat ein modernes Haus im Gebirge gemietet, hoch oberhalb eines Dorfes, zu erreichen nur über eine Serpentinenstraße. Der Ich-Erzähler möchte hier die Arbeit an einem Drehbuch voranbringen. Mit „Beste Freundinnen“ hatte er einen gewaltigen Erfolg, der nach Wiederholung ruft. Ironisch deutet Kehlmann da sein eigenes Schicksal an, mit „Die Vermessung der Welt“ einen Weltbestseller geschrieben zu haben, der sicher nicht wiederholbar ist. Notizen zu diesem Film, Szenenentwürfe und Dialoge gehen in das Notizbuch, das zugleich Kehlmanns Geschichte ist. Es reicht über fünf Tage Anfang Dezember, um mitten in einem Satz abzubrechen, der vollständig wohl lauten würde: „Und dabei bin ich erst ganz am Anfang.“ Die letzten Seiten des Buches bleiben weiß.

Vom Streit zum Spuk

Der Filmentwurf spielt bald keine Rolle mehr, denn im Haus ereignen sich merkwürdige Dinge. Die Spannungen nehmen zu, die Frau scheint ihren Mann als Autor nicht für voll zu nehmen, lässt das Pathos, mit dem er von seinem „Werk“ spricht, jedenfalls nicht gelten. Schließlich entdeckt er auf ihrem Handy Nachrichten eines Geliebten. Es kommt zum Eklat, sie steigt ins Auto und fährt davon. Allein dieses Zerwürfnis kann einen Autor schon aus der Bahn geordneten Arbeitens werfen. Das Kind ins Bett zu bringen, ist eine weitere Übung, sich nicht ablenken zu lassen von den wirren Geschichten der Kleinen, die der Vater mit Ausrufen geheuchelten Interesses begleitet. Schon da passen die Wirklichkeiten nicht recht zueinander.

Und auf einmal verschieben sich alle Dimensionen. Das Haus scheint zu wachsen. Die Flure werden länger. Hinter den Zimmern öffnen sich weitere Räume. Vor der Haustür ist nicht die Außenwelt, sondern erneut das Wohnzimmer. In der oberen Etage sind plötzlich Schritte und Stimmen zu hören. Und: Wenn der Ich-Erzähler das nächtliche Zimmer in der Fensterscheibe gespiegelt sieht, dann ist es leer. Wo er sitzen müsste, ist niemand.

Sparsame Mittel, jonglierende Sprachkunst

Kehlmann inszeniert mit sparsamen Mitteln und in einer klaren, nüchternen Sprache ein Spiel mit Raum und Zeit. Sein Schreiben gleicht den Künsten eines Jongleurs oder eines spielenden Kindes, das sich daran erfreut, die Seiten eines Zauberwürfels so lange zu verdrehen, bis alle Farbflächen zueinander passen. So verdreht er hier die Wahrnehmungsebenen bis hin zu der Erkenntnis, dass man sich zu den drei Dimensionen mindestens drei weitere dazu denken muss, die aber nach innen führen. Das unterscheidet diese kleine Geschichte auch grundsätzlich von „Shining“: Der von seinen Ängsten gepeinigte Autor wendet sich nicht aggressiv nach außen, sondern geht allmählich in sich verloren, während er verzweifelt nach einen Ausgang aus diesem Labyrinth sucht.

Dass er am Ende seine Rettung ausschlägt, ist die besondere Pointe dieser Erzählung. Es gibt auch eine Lust am Grusel und am eigenen Untergang, die stärker ist als alle Verlockungen der Wirklichkeit. Als Parabel oder psychologisch ausdeutbare Folie taugt die Geschichte nicht. Dafür ist der Zauberwürfel zu sehr vom eigenen Funktionieren und der Lust an der Mechanik angetrieben. Spaß aber macht sie allemal.

Daniel Kehlmann. Du hättest gehen sollen. Erzählung. Rowohlt, Reinbek 2016, 96 (weitgehend beschriebene) Seiten, 15 €.

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