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Neue Kammermusik: Meine Ruhr ist hin, mein Herz ist leer

Angler, Hunde und andere Happenings: die Wittener Tage für neue Kammermusik.

Am Wegesrand sprießt der Waldmeister, aus dem Gebüsch dringen Geräusche, gespenstische Wort- und Satzfetzen – oder ist es der Wind? Beim Eingangstor zur Burgruine verdichtet sich die mysteriös- bedrohliche Klangkulisse, gleich fühlt man sich von der sagenhaften Vergangenheit eingefangen. Am Flussufer steht der Fährmann zur Überfahrt bereit. Ein Traum? Nein, Wirklichkeit: die Wittener Tage für neue Kammermusik. Für Menschen, die gern beim Angeln zusehen – beim Angeln von Lautsprechern – oder bereitwillig in ein Wäscheständer-Labyrinth aus weißen Leintüchern hineinkriechen, um sich die meandrischen Wege der Gehörgänge zu vergegenwärtigen.

Wie die meisten Festivals Neuer Musik bietet auch Witten neben der herkömmlichen Konzert-Form ein Outdoor-Programm: experimentelle Installationen und Klangperformances an sinnträchtigen locations. Thema dieses Jahr: die Ruhr. So spiegelt Kirsten Reese im Burgruinen-Parcours „Vexierklang Hardenstein“ die Sagenhaftigkeit des Ortes, während Daniel Ott („querströmung“) im Zusammenspiel von E-Gitarre, Schlagzeug und Flussrauschen an der Schleuse Herbede die heutige Idylle mit der industriellen Vitalfunktion des Flusses in der Vergangenheit konterkariert. Originelle Einfälle, raffiniert gemacht. Fragt man jedoch nach Beweggründen oder innerer Notwendigkeit, begibt man sich meist auf den Holzweg. Der Komponist bedient eine Aufgabe, das Ergebnis garantiert ein Happening, unterhaltsam, objektiv, seine Identität allerdings bleibt verborgen – die Falle jeder Themenkunst.

Umso spannender die inhaltliche Kollision innerhalb des Programms: Kaum vom Schleusen-Ausflug zurückgekehrt, konfrontiert Peter Eötvös das Publikum mit einem Schillerschen Gedanken, der all das messerscharf in Frage stellt: „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sey nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben.“ Der Aufruf scheint gerade im Kontext des zeitgeistigen Originalismus’ in der Neuen Musik relevant. Dabei weist Eötvös’ Stück „Schiller: Energische Schönheit“ für Stimmen, Bläser, Schlagzeug und Akkordeon Eigenschaften auf, die den Trends der Zeit klar entgegenlaufen. Mit der Auswahl und Vermittlung der Gedanken bezieht er persönlich Stellung. Und genau so radikal wie bei der Textauswahl geht er bei deren musikalischer Umsetzung vor, indem er sie ganz in den Dienst des Textes stellt (vier Ausschnitte aus Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung“) – ohne die Prosa zu lyrifizieren. Stilistisch ungewöhnlich karg, mit dem Verzicht auf Versinnlichung gibt er zu verstehen, dass sein Fokus auf dem Gedanklichen liegt – und dass dieses Gedankliche der innere Anlass für diese Musik ist.

Dass auch eine thematische Klangperformance mit äußerem Anlass Identität stiften kann, zeigt Manos Tsangaris mit seinem Hörfilm „Beiläufige Stücke“: Schwalbe, ebenfalls Teil des diesjährigen Outdoor-Programms. Er entführt die Passagiere des Ausflugsschiffs Schwalbe ins eigene Innere. Auf der Fahrt reflektiert eine Stimme das vom Komponisten inszenierte Geschehen am Ufer: Jogger, einen Hund, ein Horn. Gleichzeitig sprechen die Ufer-Protagonisten aus dieser Stimme, so dass die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verwischen. Schiffsklänge mischen sich mit Uferklängen, aus den Gedanken werden Geschichten, und in der vorüberziehenden Landschaft spiegelt sich das eigene Ich. Auch ein Event, doch eines, das in die Tiefe geht.

Auffallend ist der starke Textbezug, der sich durch die gesamte Bandbreite des diesjährigen Programms zieht. Dass vermehrt unterschiedlichste Prosa-Formen zu Grunde liegen, ist ein interessantes Phänomen – auch wenn man bedenkt, dass spätestens seit Frank Castorf an der Berliner Volksbühne im Theater eine Tendenz besteht, nicht-dramatische Texte dem Medium gefügig zu machen. Sollte die Neue Musik sich an solchen ästhetischen Aktualitäten orientieren?

Der italienische Komponist Stefano Gervasoni etwa, Protagonist des Jahrgangs 2011, verarbeitet ganz bewusst Texte ohne literarischen Anspruch (wie eine Fallbeschreibung des Psychiaters Prinzhorn in „Horrido“). Für die integrale Rolle, die Wort und Nicht-Wort in der durchsichtigen Struktur seiner Werke spielt, ist die Komposition „Dir – In Dir“ für sechs Stimmen und Streichsextett exemplarisch: Die ineinander verschränkten Instrumental- und Vokalteile tragen die Idee zweier sich ergänzender Hälften, in der die Musik zum Alter ego der Sprache wird. Barbara Eckle

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