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Denkmal der Moderne. Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie, 1968 eröffnet, ist in 46 Jahren nicht einmal saniert worden.

© dpa

Neue Nationalgalerie: Tempel im märkischen Sand

Ein singuläres Bauwerk wie die Neue Nationalgalerie könnte so heute nicht mehr entstehen - darin waren sich alle Teilnehmer einer Fachtagung in Mies van der Rohes ikonischem Bau einig. Ein Bericht.

Man sieht es ja nicht. Die Neue Nationalgalerie ist über die Jahrzehnte wie ein Lastesel behandelt worden, dem man alles aufbürden kann, ohne je für seine Erholung zu sorgen. Jetzt endlich wird saniert, und bevor es losgeht, haben die Staatlichen Museen am Donnerstag und Freitag ein Kolloqium veranstaltet, das noch einmal die Bedeutung des Baus für die Architekturgeschichte in den Fokus rückt.

„Der unsichtbare Architekt“: Das wäre eigentlich ein gutes Motto für die Veranstaltung gewesen. Es fällt jedoch erst ganz zum Schluss – im schneidend klaren Erläuterungsbericht „Zur Aufgabenstellung und zu den Grundlagen der Planung“ von Martin Reichert, der als Projektleiter das Büro von David Chipperfield vertritt. Der Chef selbst nimmt sich als „invisible architect“ zurück. Reichert lässt keinen noch so kleinen Zweifel daran, wie ernst es um das Gebäude von Ludwig Mies van der Rohe bestellt ist, das nun 46 Jahre lang ausgehalten hat, ohne dass ihm die längst überfällige Generalüberholung zuteil geworden wäre. Die Detailanalyse des Baus, der beim Kolloquium als „Inkunabel“ – so Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz – oder „Ikone“ – so Senatsbaudirektorin Regula Lüscher – apostrophiert wird, zeichnet ein bestürzendes Bild: Glasscheiben geborsten, Isolierschicht verrottet, Brandschutz vernachlässigt, Rettungswege zugestellt.

1968 behauptete der Bau im zerbombten Stadtraum eine eigentümliche Würde

Nach diesem Kolloquium darf sich niemand mehr wundern, dass glatte fünf Jahre veranschlagt sind, um den Bau zu sanieren und für heutigen Anforderungen zu ertüchtigen – und zugleich seinen Charakter als Architekturdenkmal zu bewahren. Denn darum handelt es sich schließlich, und davon handelte über die meiste Zeit auch das Kolloquium: ein Denkmal. Ein Denkmal „der“ Moderne, wie immer man sie definieren will, und zugleich und vor allem die Summe, die Mies van der Rohe (1886–1969) aus seiner lebenslangen Entwurfstätigkeit gezogen hat. Einig waren sich alle Referenten, dass dieser Bau heute nicht mehr und überhaupt kein zweites Mal hätte entstehen können; ein singuläres Bauwerk, das sich den besonderen Umständen des nachkriegsdarbenden West-Berlin verdankt, per Direktauftrag an den großen, 1938 aus Deutschland weggegangenen Architekten vergeben, von den Spitzen der Bauverwaltung an allen Fährnissen hiesiger Behördenpraxis vorbeigeleitet. Die Schwarz-Weiß-Fotos des Eröffnungsjahres 1968 zeigen die Leere des zerbombten Stadtraums, in der der Stahl- Glas-Bau seine eigentümliche Würde behauptet. Fritz Neumeyer von der TU Berlin, der sich ein ganzes Gelehrtenleben lang mit Mies beschäftigt, schlägt in seinem Vortrag über die Nationalgalerie als „architektonisches Vermächtnis“ den Bogen von Karl Friedrich Schinkel, dessen Werk der gelernte Steinmetz und Autodidakt Mies im Büro von Peter Behrens kennen- und lieben lernt, zur Zeit nach 1945, als eben der Schinkelsche Klassizismus als „mit historischer Schuld beladen und für immer kontaminiert“ schien.

Bei Mies erfolgte keine Form jemals aus der Funktion

David Chipperfield, dessen ergänzender Wiederaufbau des Neuen Museums ihm zu Recht Preise über Preise einträgt, hat dann doch einen Abendauftritt mit einem „Mission Statement“. Wunderbar, wie er das eigentliche Tagungsmotto – „Form versus function“ – aufhebt und in den Satz umgießt, es gebe hinsichtlich aller modernen Architektur „kaum ein Gebäude, das schöner als Form sei und zugleich besser funktioniere“ als eben die Nationalgalerie. „Form gegen Funktion“ soll seitens der Veranstalter natürlich als Provokation verstanden werden, gegen das abgegriffene, von der Moderne selbst tausendfach widerlegte Leitmotiv „Form follows function“. Dass bei Mies keine Form jemals aus einer Funktion erfolgt ist, machen die historischen Vorträge klar, etwa von Beatriz Colomina (Princeton) über Mies’ „exhibitionistische“ Architektur. Er ist so ziemlich der konsequenteste Architekt der Moderne, insofern er seine Architektur über fünf Jahrzehnte hinweg Schritt für Schritt entwickelt, von Anleihen bei Schinkels Klassizismus über den „fließenden Raum“ und die Aufhebung der Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Natur und Kultur, bis zu jenem Tempel, der sich am 5. April 1967 dank achtstündiger Tätigkeit hydraulischer Pressen über den märkischen Sand erhebt.

Dirk Lohan, Mies’ Enkel, war als junger Architekt Bauleiter des einmaligen Projekts. Seine anekdotenreiche Erzählung ist ein Höhepunkt des Kolloquiums; sie hätte an den Abend gehört statt an einen nüchternen Vormittag. Der 1938 in Rathenow geborene und jung in die USA ausgewanderte Lohan bricht die verehrungsvollen Beiträge der Historiker gewissermaßen auf menschliches Maß herunter. Die Anekdoten über Bausenator Rolf Schwedler oder dessen Senatsbaudirektor Werner Düttmann beleuchten eine Nachkriegszeit, die nicht nur hemdsärmelig, sondern zugleich visionär war. Man konnte sie nur mit Wehmut hören.

Zugleich hatte Lohan bedeutende Details mitzuteilen, etwa, wie Mies mit seinem unbestechlichen Auge zu jener minimalen Aufbiegung der Stahlplatte des Galeriedachs kam, die das optische Durchhängen verhindert. Die Größe des Bauwerkes ergibt sich übrigens, so Lohan prosaisch, ganz einfach aus der Grundstücksgröße. Am Tag, als sich die am Boden zusammengeschweißte Stahlplatte erhob, tagte in der Philharmonie der „Deutsche Betontag“ oder, wie Mies sagte, „die Betonfritzen“. Als sie abends herauskamen, war das Dach zu aller Überraschung gehoben. Mies bemerkte vergnügt, wie Lohan sich erinnert, „das ist eben der Vorteil von Stahlbau“. Das Große mit dem Kleinen so zu verbinden, ist Ausweis wahrer Größe.

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