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US-Amerikanerin. Hannah Arendt.

© picture alliance / dpa

Neue Schrift von Hannah Arendt: Die Revolution des Cyborgs

Über die Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen: Hannah Arendts erst kürzlich entdeckte Schrift „Die Freiheit, frei zu sein“ festigt ihren Ruf als revolutionäre Konservative.

Hannah Arendt wurde und wird oft abgeschrieben: Den Linken ist sie zu rechts, den Rechten zu links, dem Feminismus zu unemanzipiert (was Unfug ist) und der Schulphilosophie zu wenig Philosophin. Doch dass die Deutschjüdin aus Königsberg eines der größten philosophischen Genies der neueren Zeit war, beweist erneut die Veröffentlichung einer Vortragsmitschrift aus dem April 1967. Vergangenen Sommer entdeckte und veröffentlichte Jerome Kohn das Skript; Andreas Wirthensohn übertrug es aus dem amerikanischen Original ins Deutsche, Thomas Meyer schrieb das Nachwort.

„Die Freiheit, frei zu sein“ – ein Zitat von David Henry Thoreau – ist eine Paraphrase von „On Revolution“, das 1963 erschien und nach dem Totalitarismusbuch (1951/55) und „Vita activa“ (1958/60) die Trilogie der großen Werke Arendts beschließt. Das Buch erörtert den Unterschied zwischen Amerikanischer und Französischer Revolution, die Arendt nicht als kohärenten Vorgang unter der Chiffre „Atlantische Revolution“ denkt, sondern als zwei disparate Phänomene: In Nordamerika ging es um politische Freiheit gleichrangiger Bürgersleute, in Frankreich und nach ihm ganz Europa – um die soziale Frage angesichts eines peuple, das von der Hand in den Mund lebte und bis dahin gar keinen Sinn fürs Politische hatte entwickeln können. Die USA wurden – abzüglich der Sklaven- und Rassenproblematik – zum Hort der Freiheit, Europa aber glitt erst in eine mehr oder weniger aufgeklärte Restauration ab, um dann von Terror und Diktatur durchgerüttelt zu werden, wovon es erst die Intervention der USA (teilweise) befreite.

Von Anfängen und Anfängern

Doch Arendt, die 1941 buchstäblich in letzter Minute in die USA floh und sich zur stolzen Amerikanerin entwickelte, betreibt keine plumpe Verteidigung des American way of life. Meyer betont, dass sie just in ihrer „amerikanischen Periode“ zur Befürworterin der „Räte“ wurde, die in der Revolutionszeit nach dem Ersten Weltkrieg vielerorts für kurze Zeit die Exekutivgewalt übernahmen. Tatsächlich haben die „We the people“-Tradition in den USA und die marxistisch gefärbte direkte Demokratie europäischer Prägung viel gemein – insbesondere das Wundersame des Anfang-Setzens, eines Topos, der sich durch Arendts gesamte geistige wie persönliche Biografie zieht.

„Diese geheimnisvolle menschliche Gabe, die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, hat offenkundig etwas damit zu tun, dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt trat. Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind.“ Das klingt unspektakulär, wenig schulphilosophisch – aber jeder, der sich einmal aus einer Depression gekämpft oder auch nur einen Hollywoodfilm gesehen hat, hört hier die Glocken läuten.

Das Unerhörteste, was die moderne Geschichte des Denkens zu bieten hat

Wie viel lauter aber läuten sie dann erst angesichts der großen Depression namens Geschichte, also jenes Abschnitts des Schöpfungsgeschehens, der vielleicht gerade zu Ende geht, um dem Age of the Cyborg Platz zu machen. „Hannah Arendts Idee, dass mit der Geburt eines jeden Menschen, eines jeden Gedankens ein ebenso kleiner wie radikaler, jedwede historische Erfahrung und jede Form des Pessimismus widerlegender Neuanfang gemacht ist, gehört zum Unerhörtesten, was die moderne Geschichte des Denkens zu bieten hat“ – Meyers Schlusswort bleibt wenig hinzuzufügen. Allenfalls der Hinweis, dass die Halbgebildeten und Viertelintellektuellen der Neuen Rechten nichts Neues zu bieten haben, kreist doch ihr Traum um die Wiedererrichtung des Ancien Régime – nur wurde dessen Horizont längst eingerissen. Zur Vereinnahmung durch eine „Konservative Revolution“ eignet sich die revolutionäre Konservative Hannah Arendt nicht.

Der nächste revolutionäre Schritt wird vielmehr der „Homo Deus“ sein, die Kreatur als Schöpferin, wie sie Yuval Noah Harari in seinem Buch gleichen Titels beschrieben hat, und wie es in ihrem eigenen Namen beschlossen liegt: denn creatura bedeutet „die, die schaffen wird“.

Freiheit als etwas Vor- und Übermenschliches

Diese Revolution – man nenne sie die „Blade-Runner-Revolution“ – ist eine Frucht der Technik. Doch ist die Technik wiederum eine Frucht des menschlichen Willens; nicht des brutalen „Willens zur Macht als solchen, durch den alles politische Leben zerstört wird“ – so Arendt –, sondern des Willens zur Gestaltung, der revolutionär und restaurativ in einem ist.

Wenn aber, wie in „Blade Runner 2049“, irgendwann ein Replikant Träger des kreatürlichen Freiheits- und Schöpfungswillens wird? Der Freiheitsimpuls, diese versteckte Botschaft lässt Arendt unter der atheistischen Maske oft durchblicken, ist und bleibt etwas Prä- und Suprahumanes. „Der Sinn von Revolution ist die Verwirklichung eines der größten und grundlegendsten menschlichen Potenziale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwächst, die Welt für einen Novus Ordo Saeclorum geöffnet zu haben.“

Dieser phänomenologische Freiheitsbegriff fängt nicht erst mit dem Homo sapiens an und hört nicht mit dem Cyborg auf, und geistesgeschichtlich vereinigt er cisatlantische Religiosität – denn in solcher wurzelt letztlich alles Ordnungsdenken – und transatlantisches Explorertum. Dass beide Potenzen im Denken Hannah Arendts, Orientalin und Amerikanerin, zur Synthese fanden, ist eine Pointe so schön, wie keine Fiktion sie erfinden könnte.

Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. Nachwort von Thomas Meyer. dtv, München 2018. 64 Seiten, 8 €.

Konstantin Sakkas

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