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Isabelle Huppert spielt eine Verlegerin, Lars Eidinger einen Autor.

© Camino-Film

Neuer Film mit Huppert und Eidinger: Türen der Seele

In seinem Film „Die Zeit, die wir teilen“ erzählt Laurent Larivière nur das Nötigste. Isabelle Huppert und Lars Eidinger beeindrucken in den Hauptrollen.

Was steht zwischen uns und dem Leben? Erinnerungen, Orte, andere Menschen. Oder auch solche, die schon längst nicht mehr da sind?

Joan (Isabelle Huppert) sitzt im Auto auf nasser Fahrbahn und erzählt der Windschutzscheibe ihr Leben, zumindest den Anfang. Sie ist in dem Alter, da die Zuhörer knapp werden, manchmal bleibt da nur eine Windschutzscheibe und der trommelnde Regen, der jedes Wort augenblicklich wieder löscht. Oder liegt diese Mitteilsamkeit am Ziel? Joan ist im Begriff, ihre erste große Liebe wiederzusehen. Es war ein Ire. Vielleicht hat sie sich in einen Iren verliebt, weil auch ihr Vater ein Ire war, daher auch der unmögliche Name für eine Französin: J-o-a-n, das die meisten wie John aussprechen, wie John Wayne.

Laurent Larivières zweiter Spielfilm, soviel ist von Anfang an klar, erzählt nur das Nötigste. Und das in Sequenzen, Rückblenden inklusive. Zusammensetzen muss der Zuschauer sie selber. Keine Brücken, aber durchaus das Versprechen, das hier etwas ist, das lohnt verstanden zu werden.

Träume werden knapper mit Anfang 60

So viel sei hier schon vorweggenommen: Laurent Larivière hat recht. Nur dass man es erst am Ende so ganz begreift. Und dass die Verwirrung unterwegs sehr groß werden kann.

Wir werden Zeugen des Wiedersehens, das selbstredend ein großes Risiko birgt. Wenn schon die Träume knapper werden mit Anfang 60, sollte man sich da auch noch seine Erinnerungen kaputt machen lassen, indem man einen Mann trifft, der nach all den Jahren höchstwahrscheinlich keine Ähnlichkeit mehr hat mit sich selbst? Und genauso ist das. Gewiss war es eine besondere Bosheit des Regisseurs, die große Liebe von gestern genauso zu besetzen: ein fremder dicklicher alter Mann. Isabelle Huppert als Joan – jeder weiß es, jeder sieht es – wirkt dagegen, als gehe das Alter ihr geflissentlich aus dem Weg. Könnte sie nicht seine Tochter sein?

Und nein, sie sagt ihm nichts von ihrem gemeinsamen Sohn, wozu? Es ist zu spät. Mit Isabelle Huppert als Hauptdarstellerin kann man die unglaublichsten Geschichten erzählen: Sie strahlt eine auf Frauengesichtern seltene Distanz aus, dazu eine kühle Klarheit, die sie von vornherein ins Recht setzt. Natürlich erfahren wir nicht, wie sie dieses Wiedersehen empfand, Joan ist keine geschwätzige Frau und „Die Zeit, die wir teilen“ ist kein geschwätziger Film.

Komplizierter als das Kind ist der Autor

Der einzige Kommentar liegt in den Szenen ihrer Jugend: Das junge Au-pair-Mädchen verliebt sich in einen irischen Taschendieb und als taschendiebisches Paar sind sie genauso erfinderisch, so unersättlich wie als Liebende. Allerdings sind Diebe schon berufsbedingt einem erhöhten Trennungsrisiko ausgesetzt, nämlich ihrer Verhaftung.

Dass Joan später Verlegerin geworden ist, erfahren wir nur nebenbei, aber es scheint konsequent: Das Büchermachen ist wie das Filmemachen eine der wenigen Gelegenheiten im Leben, anderen Leuten ganz legitim und ganz tief in die Taschen zu greifen, ihnen zwar nicht die Brieftasche, dafür aber noch das letzte Geheimnis wegzunehmen.

Immer wieder sehen wir Joan im Zwiegespräch mit ihrem Sohn Nathan, mal ist er älter, mal jünger, das hängt von Joans Erinnerungen ab. Aber noch komplizierter als ihr Kind ist wohl der Autor, dessen erstes Buch sie verlegt hatte und die nächsten auch. Tim (Lars Eidinger) nennt sie nur „meine Frau“, obwohl sie ihm dazu nicht die geringste Veranlassung gegeben hat. Doch es ist die Wahrheit, seine Wahrheit. Je weniger Worte sie macht, desto mehr macht er. Man hat längst vermutet, dass Bücher mitunter nichts sind als überlange Briefe an eine Person. In seinem Fall ist es gewiss so.

Erst ganz am Ende begreift man

Das Herz auf der Zunge zu tragen, ist leider ein Gemeinplatz, dabei eines der seltenen wirklich poetischen Worte der Alltagssprache. Lars Eidinger spielt diesen Autor mit einer Unbedingtheit, einer auch körperlichen Intensität, so dass man nicht recht weiß, ist das nun verrückt oder nicht doch höchster Realismus? Wie gut, dass es diesen Punkt gibt, an dem beides zutrifft.

Und all dieser Furor prallt ab an der Huppertschen Kühle, trifft aber sehr genau die Handlungsebene dieses Films, der mitnichten in der Sphäre spielt, die wir so gedankenlos „die Wirklichkeit“ nennen. Und vielleicht ist es ein wenig spät, dass man erst am Ende alles begreift: Wie viele Türen eine Seele öffnen muss, um ins Freie zu gelangen. Und dass dieses Türen-Öffnen in einer bestimmten Reihenfolge geschehen muss. Deshalb hier ein Hinweis, der dem Film bestimmt nichts wegnimmt, eher das Sehen schärft: Nicht alle Personen, denen wir begegnen, sind zu jeder Zeit real.

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