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Doppelrolle. Agenturbesitzer Yuichi Ishii und die zwölfjährige Mahiro. 

© Mubi

Neuer Film von Werner Herzog: Miete Dir ein Familienmitglied

Der Vater ist Fake: Werner Herzogs wunderbarer Film über eine japanische Agentur, die Menschen als Ersatz-Familienmitglieder vermietet.

Romantisch ist an dem in Tokio ansässigen Unternehmen Family Romance wenig. Die von Yuichi Ishii gegründete Agentur vermietet Personen als Ersatz-Familienmitglieder – oder auch als Stand-Ins für andere vakante Positionen. Eine junge Frau heiratet, ihr Vater, ein Epileptiker, ist bettlägerig. 

Ishii führt ein Vorgespräch mit der Brautmutter und stellt ihr den „Vertretungsehemann“ vor. Später gesteht ihm die Braut peinlich berührt, dass ihr Vater in Wahrheit Alkoholiker sei. Er war zu betrunken, um es zur Hochzeit zu schaffen.

Die Geschichten, die Werner Herzog zu „Family Romance, LLC“ verarbeitet hat – der Nachtrag im Titel verweist auf den Geschäftscharakter – basieren auf Ishiis Erfahrungen, sind aber frei erfunden und teilweise zu typisch Herzog’schen Absurdismen weitergesponnen. 

Immer vertrauteres Verhältnis zwischen Tochter und Miet-Vater 

Im Zentrum des Films stehen die zwölfjährige Mahiro und Ishii (vom Agenturgründer selbst gespielt), der im Leben des in sich gekehrten Mädchens plötzlich als Vater auftaucht. Mahiro weiß um die Simulation, schließlich ist ihr echter Vater vor vielen Jahren gestorben. 

Dennoch entwickelt sich nach einigen gemeinsam verbrachten Nachmittagen ein immer vertrauteres Verhältnis zwischen ihr und dem Miet-Vater.

Wer die Arbeiten von Herzog kennt, wird sich nicht wundern, warum dieser sich ausgerechnet auf das Thema gefakter Familienbeziehungen stürzte. Herzog ist für seine Manipulationen berüchtigt, Inszeniertes und Erfundenes findet sich auch in seinen Dokumentarfilmen – er nannte sie einmal „feature films in disguise“. 

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In seinem Manifest „The Minnesota Declaration: Truth and Fact in Documentary Filmmaking“ polemisierte er gegen das Realitätsverständnis des Cinéma vérité und erklärte, „poetische, ekstatische Wahrheit“ sei allein durch Erfindung und Stilisierung zu erreichen. 

Dass manche „Family Romance, LLC“ zunächst für einen Dokumentarfilm gehalten haben sollen, darüber freut er sich wie ein Kind.

Tatsächlich gelingt es Herzog, im Rahmen von Performance und Lüge, eine zutiefst anrührende und authentische Vater-und-Tochter-Geschichte zu erzählen. So roh und spontan der Film auch anmutet – gedreht wurde im kleinen Team und ohne Genehmigung, der Regisseur stand selbst hinter der Kamera – so fragil ist er in seiner Tonalität. 

Die Szenen zwischen Mahiro und Ishii sind scheu und von einer fast flüsternden Intimität. Für Herzog, der sich gewöhnlich auf die singuläre Person fixiert, ist das eher überraschend. 

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„Unsere Regeln bei Family Romance besagen, dass wir nur machen, was wir auch wirklich sind“, erklärt Ishii Mahiros Mutter, als sie ihm rät, sich einen Tick ihres verstorbenen Mannes anzueignen: „Augenzucken würde aussehen wie Schauspielerei.“ 

Herzog scheut sich nicht vor touristischen Postkartenansichten. Gedreht wurde zur Kirschblüte, auch andere Attraktionen wie das Robot Hotel finden Eingang in die Erzählung. Sehr lange richtet er die Kamera auf ein Aquarium, in dem ein paar Roboterfische in verschiedenen Lichtstimmungen herumruckeln. Das ist schön und auch ein wenig traurig.

Manche Episode wirkt zunächst grotesk – wie die einer Lottogewinnerin, die den Moment, als sie mit der Nachricht überrascht wurde, noch einmal erleben möchte. Oder die des Bahnmitarbeiters, der sich nach Fehlverhalten durch eine Mietperson vom Chef zusammenstauchen lässt. Unübersehbar aber verbergen sich hinter diesen Dienstleistungen Ängste und existenzielle Einsamkeit.

„Family Romance, LLC“ dringt tief ein in die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Gefühlen. Das Scheinvater-Tochter-Verhältnis gerät durch das Entstehen echter Emotionen schließlich in Gefahr. Und Ishii fragt sich, ob seine eigene Familie vielleicht auch nur in Rollen agiert.
Zu sehen beim Streamingdienst MUBI

Esther Buss

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