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Die US-amerikanische Autorin Elizabeth Strout.

© Foto: Imago/Marco Destefanis

Neuer Roman von Elizabeth Strout: Verbissen kontrollierte Abgründe

Mit „Die langen Abende“ legt die Pulitzer-Preisträgerin ein Potpourri aus enttäuschten Hoffnungen vor – mit ihrer unverwechselbaren Mischung aus Spott, Lakonie und Mitgefühl. 

Es ist gefährlich, wenn man mit Schriftstellern ins Gespräch kommt, die einen allzu scharf ansehen. Später findet man sich unter Umständen in einem ihrer Werke wieder, und das auf nicht unbedingt schmeichelhafte Weise. Genau das passiert Olive Kitteridge, der bärbeißigen Lehrerin im Ruhestand. In einem Café in Crosby, einer Kleinstadt an der Küste von Maine, trifft sie auf eine ehemalige Schülerin, die eine gefeierte Dichterin geworden ist. Was Olive ihr nie zugetraut hätte. Beide Frauen führen ein offenes Gespräch. Später muss Olive in einer Arbeit der Dichterin lesen, dass sie eine einsame und verängstigte Frau geworden sei.

Einsamkeit zieht sich als roter Faden durch „Die langen Abende“, den neuen Roman von Elizabeth Strout. Olive Kitteridge, die Heldin aus Strouts Roman „Mit Blick aufs Meer“, ist wieder da. Damals schon war Olive eine barsche Querulantin, die mit scharfem Basiliskenblick die Schwächen ihrer Mitmenschen scannt. Für das Buch, verfilmt als TV-Serie mit Frances McDormand, bekam Strout 2009 den Pulitzerpreis. Jetzt ist Olive gealtert, verwitwet, aber nach wie vor beneidenswert resilient gegenüber den Widrigkeiten des Lebens.

Das neue Buch, ein Meisterwerk so wie der erste Olive-Kitteridge-Roman, hat wie der Vorgänger keinen durchgängigen Plot, sondern viele Geschichten, die locker ineinander verwoben sind, dazu gibt es immer wieder Zeitsprünge. Die Figuren stehen im Fokus, nicht die Handlung. Manchmal taucht Olive nur am Rande auf, dann ist die Kamera wieder ganz auf sie gerichtet. 

Eine unromantische Liebeserklärung

Durch die vielen Kameraschwenks ergibt sich ein schillerndes Kleinstadt-Panorama, ein Potpourri aus enttäuschten Hoffnungen, hartnäckigen Lebenslügen und rabenschwarzen Tragödien. Letztlich, das transportiert die US-Autorin, sitzen wir alle in einem Boot. Oft grätscht das Schicksal gnadenlos in unsere Lebensplanung hinein, und da hilft es nur, den Tag zu genießen, wenn man denn noch all seine Sinne beisammen hat.

Seit Olive ihren Mann Henry verloren hat, fühlt sie sich oft allein, kein Wunder. Aber auch Jack Kennison, ehemals Professor in Harvard, ist einsam. Nur schwer erholt er sich vom Tod seiner Frau Betsy. Nach einer Prostata-Operation trägt er Einlagen, und ohne seine tägliche Whiskey-Ration ginge gar nichts. Olive und Jack, zwei Menschen, die alt und eigensinnig sind, die zu ihren Kindern ein distanziertes Verhältnis haben, worunter sie leiden. 

Olive und Jack, ein Paar? Tatsächlich kommen sie zusammen, heiraten und erleben ein spätes, fragiles Glück. Weil sie sich brauchen, sie sich voreinander nicht verstellen müssen. Die Liebeserklärung, die Jack seiner oft grantigen Partnerin macht, könnte nicht schöner und unromantischer sein: „Du bist so eine grauenvoll schwierige Frau, aber verflixt und zugenäht, ich liebe dich. Wenn’s dir also nicht allzu viel ausmacht, Olive, könntest du bei mir bitte nicht ganz so olive-ig sein ...? Weil ich dich liebe und uns nicht mehr viel Zeit bleibt.“

Typischer Strout-Sound

Olive kann aber auch anders: mitfühlend und empathisch sein, dabei völlig unsentimental. Wenn sie etwa eine ehemalige Schülerin zu Hause besucht, Cindy Coombs, die schwer krebskrank ist. Ohne Ankündigung schneit Olive bei ihr herein. Cindy erzählt ihrer ehemaligen Lehrerin, dass sie in ihrer Verzweiflung beim letzten Weihnachtsfest vor ihrer Familie einen Heulanfall bekommen hat, was sie heute noch belastet. Olive erzählt Cindy, dass sie ihren ersten Mann, Henry, in seinen letzten Lebensjahren nicht gut behandelt hat. Offenheit statt Fassade ist die Devise. Strout verleiht solchen Dialogen eine anrührende, aber niemals rührselige Tiefe.

Auch in diesem Roman findet sich wieder der typische Strout-Sound, der in der Übersetzung von Sabine Roth wunderbar getroffen ist: eine unverwechselbare Mischung aus Spott, Lakonie und Mitgefühl. Die Autorin will nicht wissen, wie ihre Protagonisten sich mit ihrem Leben arrangieren, irgendwie, sondern wie es ihnen wirklich geht, wo ihre Abgründe sind. Die sie oft so verbissen kontrollieren und bewachen, als wäre es Fort Knox. 

Ein lebensgefährlicher Trump-Fan-Aufkleber 

Man möchte Strout nicht als Therapeutin haben, so scharfsinnig beobachtet sie. Und ein Talent für Situationskomik hat sie auch. Olive, die gegen Ende einen Herzinfarkt erleidet und schon klinisch tot ist, wird wundersam gerettet. Sie sitzt in ihrem Auto, das in der Einfahrt ihrer Friseurin steht. Als sie nach vorn sackt, fällt sie mit dem Oberkörper auf die Hupe, deren Klang wiederum die Friseurin alarmiert. Der Notarzt ist schnell zur Stelle. So hat sich Olive quasi selbst gerettet. Dinge passieren. Manchmal gehen sie sogar gut aus.

Elizabeth Strout, Jahrgang 1956, geht so nahe an ihre Figuren heran, dass es fast wehtut. Sie schreibt unverrätselt, unexperimentell – eine amerikanisch-pragmatische Tugend, die hierzulande nicht immer wertgeschätzt wird. Doch wäre es falsch, Lesbarkeit mit Oberflächlichkeit zu verwechseln. 

Auch kitschfreie Naturbeschreibungen beherrscht Strout. Und Zeitgeschichte? Gibt es nur in Andeutungen. Eine der Pflegerinnen, die Olive nach ihrem Herzinfarkt zu Hause besucht, hat auf ihrem Pick-up einen Fan-Aufkleber. Darauf steht der Name „dieses orangehaarigen Kotzbrockens“, der das Land regiert. Als Olive den Aufkleber sieht, bekommt sie fast einen zweiten Herzinfarkt.
Elizabeth Strout: Die langen Abende. Roman. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. Luchterhand Verlag, München 2020. 352 Seiten, 20 €.

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