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Dreht erratisch an Knöpfen. Die Berliner Autorin Helene Hegemann, 26

© Thilo Rückeis

Neuer Roman von Helene Hegemann: Digital ist alles

Zivilisation war gestern: Helene Hegemanns brutaler, drastischer und poetischer Roman „Bungalow“, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht.

Ein etwa vierzigjähriges Hetero-Paar hat Sex mit einem Teenager. Damit beginnt Helene Hegemanns neuer, vergangene Woche für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierter Roman „Bungalow“. Und mehr noch: Charlie, die zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt ist, würgt Georg, ihr doppelt so altes männliches Gegenüber, so lange, bis dieser ohnmächtig wird. „Es ging da nicht um die Abwandlung irgendeiner Routine, nur darum, dass Maria wegen uns den Fernseher ausmachen sollte.“

Da ist er also wieder, jener bleischwere Ennui, dem nur mit krassen Exzessen beizukommen ist. Und der abgefuckte, ultracoole Hegemann-Sound, der sich seit „Axolotl Roadkill“ keine Spur abgemildert, eher an Schärfe gewonnen hat. Nur wenige schaffen es, so brutal, drastisch und poetisch zugleich zu schreiben.

Die Story mag zweitrangig sein, und dennoch: Man möchte schon gern wissen, wie es dazu kam, dass zwei Erwachsene eine Menage à trois mit einem Teenie beginnen. Und wie sich diese Beziehung literarisch beschreiben lässt, ohne in Kinderpornographie oder verklärten Kitsch abzugleiten. Allein deshalb werden vermutlich auch diejenigen bei der Stange bleiben, denen Hegemanns Rotz-Kotze-Sperma- Blut-Feuerwerk schnell auf die Nerven geht.

Gefühlskälte, Paranoia und Misstrauen dominieren das Milieu

Allerdings erzählt Hegemann erstmal von Charlies Kindheit. Ihre Heldin ist eine typische Hegemann-Figur, präpubertär, geistig frühreif und verwahrlost, in den Augen ihrer Klassenkameraden ein „schwer durchschauberer Assi“. Mit ihrer Mutter haust sie in einer Betonmietskaserne mit Ausblick auf einige Bungalows, in denen die Betuchteren des Viertels wohnen. Gefühlskälte, Paranoia und Misstrauen dominieren das Milieu. Bei Hegemann weiß man nie so recht, ob diese Mischung street credibility vorweisen oder einfach nur absurd sein soll. Kleinkinder fallen in offene Gullys, ohne dass ihre Mütter ihr Fehlen bemerken; der Chemielehrer schmeißt während des Unterrichts einen Molotowcocktail auf eine Gruppe Nazis; und die Kinder des Viertels vertreiben sich die Zeit damit, Hamster im Zoogeschäft zu kaufen, nur um sie dann vom Klettergerüst fallen zu lassen.

Bei Charlie zu Hause sieht es nicht besser aus, im Gegenteil: Ihre Mutter ist nicht nur alkohol- und tablettenabhängig, sondern offensichtlich auch schizophren – eine denkbar ungünstige Kombi. Und so ungefähr die schlimmste Verunsicherung für ein Kind. Mal liegt die Mutter tagelang apathisch im Bett, mal bedroht sie ihre Tochter mit einem Messer, dann wieder räumt sie gut gelaunt die Küche auf und macht Blätterteigtaschen. Die meiste Zeit jedoch versäuft sie das Haushaltsgeld, bevor es in Lebensmittel umgesetzt werden kann.

Nach außen hin versucht Charlie die Fassade zu wahren: Sie stiehlt Essensreste von Cafétischen, damit es in der Schule so aussieht, als hätte ihr jemand eine Lunchbox gepackt, und behauptet, sie müsse zum Badminton oder zur Physiotherapie, um zu vertuschen, dass sie kein Geld für eine Kinokarte hat.

Irgendwo sprengt sich immer gerade wer in die Luft

Es gibt Momente, die wirklich berühren; meist jedoch dreht Hegemann so sehr auf, dass man sich eigentlich nur noch angeekelt abwenden oder hysterisch lachen kann. Es reicht nicht, dass die Mutter ungeöffnete Raviolidosen auf den Herd stellt und ihnen beim Explodieren zusieht, nein, sie isst im Suff ein vergammeltes Hühnchen samt Knochen, „wie ein halb verhungertes, schwachsinniges altes Pferd"; bei anderer Gelegenheit beißt sie ihrer Tochter ein Stück aus dem Unterarm. Mitunter glaubt man bei der Lektüre, man sei unversehens in eine Jerry Springer Show gestolpert. Oder als hätte Hegemann ein Cut-up aus den schrillsten „Bild“-Zeitungs-Schlagzeilen der letzten Jahre erstellt.

Derweil bricht draußen die Apokalypse an. Tierkadaver säumen Charlies Schulweg, alle reden von einem ominösen Kriegsausbruch, Wirbelstürme und sintflutartige Regenfälle verheeren das Land („Im Fernsehen sah ich die Handyaufnahme von jemandem am anderen Ende Deutschlands, der auf seinem Flatscreen-Fernseher einen reißenden Fluss hinuntertrieb.“), und die Menschen begehen reihenweise derart groteske Selbstmorde, als hätte ihr letzter Akt im Leben darin bestanden, Wetten um die bizarrsten Todesarten abzuschließen.

All das prasselt ungefiltert auf uns ein. In jedem zweiten Satz verkeilen sich Banalität und Pathos bis zur Unkenntlichkeit („Das Muster der Hartschalensitze war hässlich, der Westen ging unter“), beinahe wie im realen Leben: Irgendwo sprengt sich immer gerade wer in die Luft oder läuft Amok, während andernorts ein neues Katzen-Meme viral geht.

Hegemann will die Sensationsgier ihres Publikums provozieren

Unter diesem Aspekt ist „Bungalow“ eine zutreffende Gegenwartsdiagnose. Nur fragt man sich, warum Hegemann uns all das erzählt. Um das Ausmaß der eigenen Abstumpfung zu erfahren, reichen eigentlich Radio, TV, Youtube und Facebook. Die Antwort dürfte Charlies Faszination für Georg und Maria sein. Oder vielmehr der Voyeurismus, auf den sich ihr Kontakt über weite Strecken beschränkt. Als das Schauspielerpaar in den gegenüberliegenden Bungalow zieht, beginnt Charlie, da ist sie erst 13, die beiden obsessiv durch eine große Fensterwand zu beobachten: bei Drogenorgien, beim Sex, beim Müll-Raustragen.

Wieso sie ihre Sehnsüchte auf diese denkbar ungeeigneten Figuren projiziert, verstehen wir nun intuitiv. In Charlies Vorstellung sind beide „zu arrogant, zu brutal, um auf das überall grassierende Gefühl von Chaos und Zerrüttung genauso zu reagieren wie der Rest der Welt“. Sie reagieren gar nicht. Sie sind quasi das Orchester, das seelenruhig auf dem sinkenden Schiff weiterspielt. Man ahnt, dass ihre Affäre – wie auch der Weltuntergang – womöglich nur in Charlies Kopf stattfindet.

Vielleicht bedient Hegemann mit „Bungalow“ schlicht und einfach die Aufmerksamkeitsökonomie des Digitalen, die längst Einzug in die Literatur gehalten hat – so erratisch wie ein Kind, das einfach mal auf irgendwelche Knöpfe drückt, um zu schauen, was dann passiert. Vielleicht ist Helene Hegemann aber auch eine geniale Hackerin dieses Systems. Sie will die Sensationsgier ihres Publikum provozieren. Das ist ihr gelungen.

Helene Hegemann: Bungalow. Roman. Hanser Berlin. 288 Seiten, 23 €.

Anja Kümmel

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