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Der Schriftsteller Wilhelm Genazino in einer Grünanlage nahe seiner Wohnung in Frankfurt am Main

© DPA

Neuer Roman von Wilhelm Genazino: Am Ende bleibt nur die Liebesverwesung

Poesie des Hässlichen: Wilhelm Genazino erzählt in seinem neuen Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“ einmal mehr vom Scheitern.

Ziemlich genau in der Mitte von Wilhelm Genazinos neuem Roman erlebt der Held eine Art Blackout: „In meinem Kopf wurde es kellerdunkel.“ Eben noch war der Ich-Erzähler durch seine Wohnung gelaufen, wobei er über seine Hose und seine Eltern nachgedacht hatte. Die Hose ist zu eng und zu alt, die Eltern sind schon lange tot. So verschlissen wie seine Hose aussieht, so fühlt er sich auch selbst. Vielleicht weil die Eltern sich und ihn lieblos behandelt haben und seine Kindheit schrecklich war. „Man hätte mich wegtragen können, so einfallslos und innerlich ausgeschabt kam ich mir vor.“ Der Mann steht kurz davor, verrückt zu werden.

Wilhelm Genazino ist ein Großmeister der Wiederholung. Zuverlässig veröffentlicht er alle zwei, drei Jahre ein Buch, das nie dicker als 170, 180 Seiten ist und in Variationen vom immergleichen Thema handelt: dem Scheitern. Stets sind seine Protagonisten Männer im fortgeschrittenen Alter, die auf eine manchmal eher grotesk-komische, manchmal auch still verzweifelte Art am Leben vorbeileben. In „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) findet einer dieser Männer sein Glück darin, als „Einläufer“ für Luxusschuhe unterwegs zu sein und dabei die Gedanken schweifen zu lassen, in „Die Liebesblödigkeit“ (2005) wird ein Zivilisationsapokalyptiker, Katastrophenfachmann und Panikberater mit seiner eigenen Beziehungsunfähigkeit konfrontiert.

Die Exzentrik dieser Sonderlinge zeigt sich bereits in der Seltsamkeit ihrer Berufe. In „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“, dem 21. Roman von Wilhelm Genazino, bleibt hingegen lange unklar, ob der Held überhaupt irgendeiner Arbeit nachgeht. An einer Stelle heißt es, er sei früher ein Disponent gewesen, also jemand, der die Tätigkeit anderer Menschen organisiert und überwacht. Und in einer der absurdesten Szenen des Buches absolviert der Exdisponent ein von seiner Exfrau eingefädeltes Bewerbungsgespräch bei seinem Exschwiegervater, der eine Friedhofsgärtnerei betreibt. Über die Ablehnung ist er erleichtert, denn für Pflanzen und Gräber hat er sich noch nie interessiert.

„Heute stank die Stadt nach Autos, Bratwürsten, Gummi, Unterwäsche und alten Handtaschen.“

Den Namen des Ich-Erzählers erfährt der Leser, wie meist bei Genazino, nicht. Aber die Exfrau, die ihm gleich am Anfang bei einem Straßenfest über den Weg läuft, heißt Sibylle. Sie will es noch einmal mit ihm versuchen, während der Exmann in ihren Annäherungsversuchen sogleich die Symptome einer „Liebesverwesung“ erkennt, das „einzige authentische Übrigbleibsel jeder Ehe“. Später tauchen noch andere Frauen, andere alte Lieben auf, und dem Helden entgleitet mehr und mehr seine Erinnerung: „War es Ursula, mit der ich (long long ago) auf der Documenta war? War es Christa, die mit mir durch die Räume des Jeu de Paume wandeln wollte? Oder Veronika, die sich das Städel ausgesucht hatte?“

Egal. Seinen Traum, „mit einer einzigen Hose und einer einzigen Frau durchs Leben zu kommen“, hat dieser Exmann, Exgeliebter und Exträumer längst – long, long ago – aufgegeben. Statt noch einmal die Liebe zu suchen, arbeitet er nun zielstrebig an seinem eigenen Verschwinden. Ziel ist es, „die Ratlosigkeit als eine Art Lebenskunst hinzustellen“. Das klingt beinahe zen-buddhistisch, entspringt aber akutem Überdruss.

Es gibt einige Sexszenen von unfassbarer Freudlosigkeit

Wo Wilhelm Genazinos Lebenskünstler früher bei ihrem Umherschweifen durch Fußgängerzonen und Nebenstraßen noch auf die Epiphanien einer alltäglichen Schönheit – spielende Kinder, streunende Hunde – gestoßen waren, zeigt sich die Welt nun weniger einladend: „Heute stank die Stadt nach Autos, Bratwürsten, Gummi, Unterwäsche und alten Handtaschen.“

Genazino schichtet Beobachtungen und Reflektionen übereinander. Dabei entsteht ein Geknäul aus Vergangenheit und Gegenwart, dessen Witz mitunter an die Slapstick-Klassiker von Loriot erinnern. „Der Andrang der Erinnerungen war schuld, dass ich zurzeit nicht die Ruhe fand, ein hartgekochtes Ei in Ruhe zu schälen“, beklagt sich der Ich-Erzähler einmal. „Immer wieder kamen Details an meine Jugendlieben dazwischen.“

Die äußere Handlung ist in diesem Roman dermaßen zusammengeschrumpft, dass man kaum von einem Plot sprechen kann. Es gibt den scheiternden Versuch, in einem Kaufhaus eine neue Hose zu kaufen, und einige Sexszenen von unfassbarer Freudlosigkeit. Trost spendet dieser kleine, große Roman nicht, aber seine Sätze leuchten. „Der Regen prasselte nieder und hatte für niemanden eine Botschaft. Wie nasse Handtücher standen/hingen die Hochhäuser nebeneinander.“ Wilhelm Genazino gelingt es wie keinem anderen Autor, die Poesie des Hässlichen zu entdecken.
Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze. Roman. Hanser Verlag, München 2018.176 Seiten, 20 €.

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