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Kultur: Neues Bauen in Berlin: Kopfbau mit Tiefenwirkung: Zum Inneren der Lokfabrik in Mitte führt ein eigenwilliges Gebäude an der Chausseestraße

Wenn in Berlin-Mitte rostiger Stahl und rissige Holzlatten aufeinander treffen, liegt die Vermutung nahe, dass da eine alte Baracke übrig geblieben ist und die Abrissbirne nicht mehr lange auf sich warten lässt. Es kann aber auch anders sein.

Wenn in Berlin-Mitte rostiger Stahl und rissige Holzlatten aufeinander treffen, liegt die Vermutung nahe, dass da eine alte Baracke übrig geblieben ist und die Abrissbirne nicht mehr lange auf sich warten lässt. Es kann aber auch anders sein. Vielleicht ist das strenge steinerne Berliner Architekturraster aus dem Lot geraten und hat Raum für eine andere Bauweise geschaffen? Zum Beispiel für rostigen Stahl und einfache Holzlatten eben, wie sie bei dem neuen Kopfbau der alten Lokfabrik in der Chausseestraße 8 - schräg gegenüber von Brecht-Haus und Friedhofsgelände - zum Einsatz kommen.

Der Architekt Carlos Zwick, der in Berlin ebenso zu Hause ist wie im Allgäu, hat die alten Fabrikgebäude saniert und mit einem neuen Kopfbau zur Chausseestraße hin ergänzt. Eine Adresse, die ihm bestens vertraut ist: Gleich nebenan hat Zwick bereits eine ehemalige Pianofabrik stilsicher für Büronutzung umgebaut. Das Markenzeichen der alten Lokfabrik ist ihre neue Straßenfassade. Sie verfügt über einen vorgeblendeten Sonnenschutz aus waagerechten Holzlamellen. Sie sind in Alurahmen zu einzelnen Paneelen zusammengefasst, so dass man die Lamellen vor den Fenstern hochklappen kann. Dabei entsteht ein eigener Fassaden-Rhythmus, ein Straßenrelief, das dem Haus Aufmerksamkeit sichert. Hinter den Lamellen und einem schmalen Revisionsgang schließt sich dann eine zweite, gläserne Fassadenschicht an.

So ungewöhnlich solch eine Architektursprache für Berlin noch immer ist, so typisch ist der schmale Zuschnitt des Grundstücks für die älteren Bezirke der Stadt. Im Erdgeschoss ist gerade genug Platz für ein Ladenlokal, eine Durchfahrt zum Hof, die zugleich als Zufahrt zur Tiefgarage dienen muss, sowie für den Eingang zu den Büros. Auf engstem Raum zusammengequetscht, sind rechte Winkel hier Mangelware. Doch das stört nicht, denn Zwick hat den knappen Raum klug gegliedert. Durch die Toreinfahrt blickt man bis auf die rückwärtige - namensgebende - Lokfabrik und bekommt trotz des beschränkten Raumes ein Gefühl von Großzügigkeit. Dafür musste sich das Treppenhaus mit einem knappen, trapezförmigen Grundriss zufrieden geben. Doch auch hier wird aus der Not eine Tugend. So ist nicht nur das tropfenförmige Treppenauge sehenswert. Eine zusätzliche haptische Note verleiht dem Treppenhaus der raue Beton, der die Maserung der Schalungshölzer zeigt. Die Rückseite des Bürohauses, das von zwei Wohneinheiten bekrönt wird, gibt sich betont sachlich: Fenster mit Holzrahmen und viel Glas auch hier, dazu stählerne Austritte, die der Fassade als erforderlicher zweiter Fluchtweg vorgesetzt wurden.

Dass Zwick gerne mit Holz arbeitet, wird auch bei dem eingeschossigen Versorgungstrakt auf dem Hof deutlich, den er mit dunkelbraunen Holztafeln verkleidet hat. Je tiefer man in das Grundstück der Lokfabrik vordringt, desto mehr verliert sich der aufdringliche Verkehrslärm der Chausseestraße. Das alte Quergebäude im ersten Hinterhof, das um die Jahrhundertwende entstand, ist folgerichtig dem Wohnen vorbehalten. Französische Fenster und vorgehängte Stahlbalkone zur Sonnenseite verleihen ihm eine zusätzliche Qualität. Erst dahinter schließt sich die eigentliche Lokfabrik an. Im 19. Jahrhundert galt die Chausseestraße, damals noch am Rande der preußischen Residenzstadt gelegen, als Zentrum der aufstrebenden Berliner Schwerindustrie. Die war mit Namen wie demjenigen August Borsigs verbunden. Erst zur Jahrhundertwende verlagerte man die Fabriken aus dem inzwischen zur Innenstadt gewordenen Gebiet in die neuen städtischen Randgebiete.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zog ein DDR-Tiefbaukombinat in die backsteinroten Gebäude ein. Ein heroischer Fries an einer der Durchfahrten erinnert heute ebenso an diese Epoche wie die quadratischen blauen Fliesen im Treppenhaus, die auf entzückende Weise fehl am Platz wirken. Das Erdgeschoss der Fabrik war wohl seit den siebziger Jahren den Lauschangriffen der Staatssicherheit vorbehalten - die "Ständige Vertretung" der Bundesrepublik in der Hannoverschen Straße lag schließlich nicht weit entfernt.

Heute haben sich unterschiedliche Firmen in den entkernten Fabriketagen angesiedelt, die das gewünscht großzügig technische Ambiente für Werber und High-tech-Leute bieten. Doch auch für die Mußestunde zwischendurch ist gesorgt, in Sarah Wieners Restaurant im Hinterhof. Den zeitgenössischen Kontrast zum historischen roten Backstein schaffen Zwicks rostige Stahlwände mit ihrer höchst lebendigen Oberflächenwirkung. Sie trennen nicht nur die Müllcontainer von den PKW-Stellplätzen ab, sondern können auch als Grundstückstore eingesetzt werden.

Doch was wäre eine alte Fabrik ohne neue Dachkrone? Von der Straße aus kaum wahrzunehmen, ist auf dem Dach ein langer Riegel mit acht Wohneinheiten unterschiedlicher Größe entstanden. Die leichte Stahlskelettkonstruktion und die großzügigen, schräg gestellten Glasflächen sorgen für vorstädtische Atmosphäre über den Dächern der Metropole. Jeder Wohnung wurde sogar ein eigenes Gartensegment zugestanden. Findlinge aus Brandenburg trennen die Bereiche unauffällig voneinander ab. Nicht einmal der Kinderspielplatz fehlt zur Dachidylle auf dem Hinterhaus.

Jürgen Tietz

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