zum Hauptinhalt
Preziosen und Preziöses. Roger Willemsen. Foto: Jens Kalaene/dpa

© dpa

Neues Buch: Die aperolfarbene Welt

Roger Willemsen bereist mal wieder die Welt und schreibt darüber. In „Momentum“ will er Augenblicke höchster Intensität versammeln

Es beginnt, wie es sich gehört, mit dem Geboren-Werden, und es endet mit dem Sterben. Dazwischen werden, mal nur ein paar Zeilen lang, mal auch auf mehr als einer Seite, Hunderte von kleinen und größeren, beiläufigen und nicht so beiläufigen Stationen eines Lebens aufgerufen, das als Unterwegs-Sein verstanden wird. Dieses Unterwegs-Sein ist zum einen ganz konkret das des unermüdlich reisenden Roger Willemsen, will zum anderen aber unverkennbar als unser aller Stationendrama durchscheinen.

„Momentum“, diese über Jahre zusammengetragenen Entdeckungen, Reflexionen, Dialoge, Fantasien, Begegnungen und, durchaus eine eigene Kategorie, Begegnungen mit Frauen, zeigen einen Sammler besonderer Augenblicke. Mit gezücktem Kugelschreiber zieht er durch die Kontinente – übrigens ohne dass man je erfährt, was ihn dort hingebracht hat, was er dort will und tut. Mal hier, mal da, mal in Asien, mal in der Ukraine, dann in Florenz oder am Potsdamer Platz: Man hat das Gefühl, Willemsen ist überall, und unwillkürlich schaut man sich um, ob er nicht gerade hinter einem steht.

Willemsen ist, das hat er in seinen Reisebüchern oder dem autobiografischen Essay „Der Knacks“ bewiesen, ein hellwacher Zeitgenosse und ein Genießer wacher Momente, die ihm das Gefühl vermitteln, ganz und gar und intensiv am Leben zu sein. Und sie dann auch so festzuhalten: Denn er ist ja nicht nur ein leidenschaftlicher Beobachter, er ist vor allem ein leidenschaftlicher Formulierer, und beides zusammen, so muss er es sich immer vorgestellt haben, verdichtet sich zu einem Fest des Daseins, das aus dem Willemsen-Leben ein Leben für alle macht, etwas sehr Gegenwärtiges – ein Präsent.

Doch in Wahrheit reicht ihm das Leben nicht. In Wahrheit ist für ihn das Leben richtig Leben erst als Text. Und Text muss für ihn mehr sein als Schilderung. Immer wieder beginnt er mit erfrischenden kleinen Beobachtungen, scharf gezeichneten Skizzen, entlarvenden Gesten, im Ton genau gehörten Sätzen, aber es genügt ihm nicht, dabei zu bleiben. Die Welt soll auch durchleuchtet sein. Er weiß ja selber lang schon, dass er beschreiben kann, aber es langweilt ihn, nicht mehr als das zu tun, und also möchte er sich und allen zeigen, dass er mehr drauf hat, dass er erfinden kann, dass er ein Dichter ist. Wie schade.

Vieles ist hübsch auf den Punkt gebracht, zum Beispiel wenn es am Ende eines nichtigen Dialogs heißt: „So reden sie immer weiter und werden immer mehr zweie, die sich geduldig flöhen.“ Oder, ganz anders: „Die Hand dieser alten Frau, so durchscheinend blau geädert sie erscheint, ist in 4711 eingelegt und könnte aus Duftschichten bestehen.“ Oder wir sehen einen „Vogelschwarm, in der Luft aufgehängt wie ein Mobile“.

Nur allzu oft aber bewegen sich die Sätze ungeduldig von der Wahrnehmung über Vermutungen und seltsame Assoziationen hin zu der Schlusspointe, ohne die kaum ein Text auskommt. Vor lauter Pirouetten, die bewundert werden wollen, kommt man dann kaum dazu, die Menschen, Orte, Situationen vor dem eigenen Auge sich entfalten zu lassen. Und alles steht erst, wenn er, mit Verlaub, seinen Friedrich Willemsen dazu gegeben hat.

Zudem gibt es einen fatalen Hang zum Tiefsinn: „Ich erinnere mich der Stelle, wo ich Kind war. Dort rufe ich an. Doch es ist niemand da.“ Oder: „Dieses Strotzen vor Vitalität und Übertreibung, dieses Bersten des Bildes ist der Moment, da es sich selbst überschreitet und Inbegriff wird.“ Es gibt den reinen Kitsch: „Sie hatte nach Apricot und geraspelten Nüssen geduftet“. Es gibt Sätze, die ordentlich nach was klingen sollen, sich dann aber doch nur nach Blech anhören: „Je länger nichts passiert, desto stärker fühlt es sich an, als hätte ich Geburtstag.“ Und es gibt immer wieder Sätze, in denen uns der Formuliermeister Stücke aus seiner Kandisdose reicht, die doch nur überkandidelt sind: „Auf der Straße gehen Frauen vorbei, die wie nasse Pferde riechen.“ Oder jemand „macht ein Gesicht wie der Gourmet, der im Hähnchenknochen auf eine frische Blutader gestoßen ist“.

Da bleibt es nicht aus, dass man, wenn einmal eine Frau assoziiert wird als „ein stattlicher Pfau, der sich im Innehalten die eigene Hand küssen wird“, an jemand ganz anderen denkt. Auch wenn hier und da von Hühnermist und Katzenpisse die Rede ist: Die Welt, wie sie uns hier entgegenkommt, hat oft etwas allzu Poliertes, Geschminktes, Aperolfarbenes. Genau so oft aber zeigt sie sich als schön und genau gespiegelt, vielfältig ausgebreitet und, nicht zu vergessen, mit Heiterkeit und Witz. Kein Wunder, dass man sich von diesem Flickenteppich namens „Momentum“ augenblicksweise so hin- und dann wieder so hergerissen fühlt.

Roger Willemsen: Momentum. S. FischerVerlag, Frankfurt a.M. 2012. 320 S., 21,99 €.

Jochen Jung

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false