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Neukölln: Keine fertigen Lösungen

Michael Wildenhain erzählt sehr dicht von Konflikten Jugendlicher in Neukölln.

Hakan und Darius sind in Berlin-Neukölln aufgewachsen und haben einander seit ihrer Grundschulzeit in diversen Straßenkämpfen beigestanden. Inzwischen besuchen beide ein Gymnasium und sind Teil einer Antifa-Gruppe. Nach einem Zusammentreffen mit Neonazis in Kreuzberg, bei dem Darius nur noch durch zwei Schüsse aus einer Signalpistole eine weitere Eskalation verhindern konnte, beginnt die Gruppe auseinanderzubröckeln. Auch weil Hakan, obwohl er einen türkischen Vater hat, inzwischen weit mehr Bedarf sieht, gegen die Bedrohung durch Araber und Türken im eigenen Bezirk anzugehen. Damit stößt er auf den Widerstand der anderen, von denen die meisten sowieso nach den Sommerferien den Bezirk verlassen wollen. Dass auch Darius seine Position nicht teilen will, enttäuscht Hakan am allermeisten ...

Im Zentrum des Jugendromans „Blutsbrüder“ von Michael Wildenhain steht die Freundschaft zwischen dem 17-jährigen Darius und dem ein Jahr jüngeren Hakan. Beide haben nur wenig bis gar keinen Rückhalt durch die Eltern erfahren und hatten sich erst allein, dann gemeinsam gegen die Gangs in ihrer Nachbarschaft zur Wehr zu setzen. Die anderen aus der Antifa-Gruppe, vergleichsweise wohlbehütet aufgewachsen, lehnen die antrainierten Abwehrreflexe von Darius und Hakan einerseits kategorisch ab, sind jedoch heilfroh, wenn sie ihnen eigene Verletzungen ersparen. Der Anspruch von Gewaltfreiheit wird hier von Wildenhain sehr drastisch an der Wirklichkeit gemessen. Wiewohl Hakan sich als „Deutscher“ empfindet, vermag er die Herkunft seines Vaters und die damit verbundenen Werte wie „Ehre“ und „Stolz“ nicht so leicht abzuschütteln. Darius hingegen erschrickt immer mehr vor sich und seiner „inneren Kälte“, mit der er eine bedrohliche Situation erst analysiert und dann effizient zuschlägt. Wie die anderen meint er, dass es nicht die Aufgabe von Jugendlichen sein kann, Patrouillen gegen wen auch immer zum Schutz von Schwächeren aufzubauen. Er fiebert eigentlich nur noch seiner Volljährigkeit entgegen, um endlich eine eigene Wohnung beziehen und seinen stets betrunkenen und gewalttätigen Vater verlassen zu können.

Doch als Hakan seine Hilfe braucht, steht Darius an seiner Seite, auch wenn das für ihn einen großen Verlust bedeuten wird.

Wildenhains Sätze sind zuweilen überbordend und auch etwas unrhythmisch verschachtelt, dennoch entwickelt sein Roman einen Sog, der einen bis zur letzten Seite nicht loslässt. Die Identifikationsfiguren sind überzeugend ausgestaltet, gerade weil der Autor für ihre überlebenswichtigen Fragen und Probleme keine endgültigen Lösungen oder Königswege findet. Vielmehr beschreibt er sehr plastisch die unterschiedlichen Dilemmata, mit denen sich Heranwachsende in einer multikulturellen Umgebung auseinanderzusetzen haben. Das Berliner Lokalkolorit ist zwar nicht mehr ganz taufrisch und der Flughafen Tempelhof hier noch in Betrieb, aber die im Buch beschriebenen Prozesse und ihre Grunddynamik sind nach wie vor höchst aktuell.









Michael Wildenhain:
Blutsbrüder. Roman. Ravensburger Verlag, Ravensburg 2011.

253 Seiten. 14,95 Euro. Ab 14 Jahren.

Ulrich Karger

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