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Kultur: "Neununddreißigneunzig": Sterben für ein Komma

Das Buch kommt mit großem Getöse daher: als Enthüllungsroman über die Praktiken der Werbewirtschaft und als Rundumschlag gegen das System. Hier ist ein Autor, der auspackt, ein Roman, für den Michel Houellebecq getrommelt hat, der die französischen Bestsellerlisten lange anführte und nun auch in Deutschland heftig beworben wird.

Das Buch kommt mit großem Getöse daher: als Enthüllungsroman über die Praktiken der Werbewirtschaft und als Rundumschlag gegen das System. Hier ist ein Autor, der auspackt, ein Roman, für den Michel Houellebecq getrommelt hat, der die französischen Bestsellerlisten lange anführte und nun auch in Deutschland heftig beworben wird.

"Neununddreißigneunzig" ist die Geschichte des Werbetexters Octave Parango, des Alter egos Frédéric Beigbeders, der antritt, "das Sandkorn im Getriebe" seiner Werbeagentur zu sein. Einst verführte ihn diese "Welt, in der man für ein Komma stirbt" und sich "drei Wochen lang wegen eines Adverbs anschreien kann"; dann musste Octave einsehen, dass Kreativität bei den Auftraggebern nicht gefragt ist. Statt wirklich intelligenter Werbung werden immer nur dieselben netten, hübschen, harmlosen und verlogenen Skripte verlangt. Doch auch mit seiner Rebellion kommt Octave nicht weit. Jeder Widerstand kommt zu spät. Die Werbung regiert längst die Welt, und die Menschheit folgt freiwillig ihrem Diktat. Octave ist selbst Gefangener des Systems, gegen das er anrennt. "Heute weiß ich, dass nichts sich ändern wird, ausgeschlossen, es ist zu spät. Gegen einen allgegenwärtigen, virtuellen und unverletzbaren Gegner kann man nicht kämpfen. Im Gegensatz zu Pierre de Coubertin meine ich, dass das Entscheidende heute die Nichtteilnahme ist. Am besten wäre es, einfach zu verschwinden wie Gauguin, Rimbaud oder Castaneda." Da er innerhalb des Systems nichts ändern kann, möchte Octave wenigstens Abfindung und Arbeitslosengeld mitnehmen. Und packt aus, um gekündigt zu werden. Nur wird Octave pikanterweise im Buch auch noch befördert, während Frédéric Beigbeder im wirklichen Leben kurz vor Erscheinen des Buches tatsächlich dieses Ziel erreichte, bei der Werbeagentur Young & Rubicam entlassen wurde und dafür das Etikett "Skandalautor" erhielt.

"Neununddreißigneunzig" sagt dem "Totalitarismus der Werbung" und der dahinterstehenden Industrie den Kampf an und möchte damit an die Bücher von Bret Easton Ellis oder Michel Houellebecq anschließen - nur fehlt dem Roman die literarische Kraft.

Der Roman ist Verrat, Beichte und Aufklärung in einem. "Ideal wäre, wenn Sie erst mich zu hassen beginnen und dann die Epoche, die mich hervorgebracht hat." Octave berichtet direkt aus dem Innern der Werbewirtschaft. Er offenbart die totalitären Propagandamethoden und -inhalte, derer sich die Konzerne in ihrer Produktwerbung bedienen, und die höhnische Selbstverständlichkeit, mit der die Kunden für dumm verkauft werden. "Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. Ich fixe Sie mit Neuigkeiten an, die den Vorzug haben, dass sie nicht neu bleiben. Mein Leben besteht darin, Sie zu belügen, und dafür werde ich fürstlich entlohnt." Octave vergisst auch nicht, sich selbst den Spiegel vorzuhalten und ein Leben vorzuführen, das nur noch von Kokain, Alkohol und halluzinogenen Pilzen zusammengehalten werden kann und das von Zynismus, Überdruss, Selbstekel und Angst vor Gefühlen geprägt ist.

Das Problem liegt allerdings darin, dass mit dieser Chronik aus der Höhle der Löwen auch die Sprechblasen der Werbewelt reproduziert werden. Wenn Octave das Mikro ganz nah ranhält und O-Töne aus dem Agenturalltag protokolliert, so kann der Autor zwar die Sprechenden der Lächerlichkeit preisgeben, liefert aber selbst auch nur Sprechblasen. Und wenn Octave seine Beichte ablegt, offenbart er zwar die ganze hedonistische Leere seiner Existenz, gibt sie aber zwangsläufig in der Form einer vordergründigen Lifestylegeschichte wieder. Octave beschreibt den Zustand der Welt zwar in zivilisationskritischer und aufklärerischer Absicht, bedient sich dabei aber endloser Schlagworte und Klischees. So ist "Neununddreißigneunzig" zwar eine detailreiche, auch in der hervorragenden Übersetzung flotte Satire, der Rundumschlag eines Moralisten, der nicht mehr bereit ist, seine Rolle weiterzuspielen und dem System den Kampf ansagt, aber auch ein in literarischer Hinsicht ziemlich dürftiges Buch voller Allgemeinplätze.

Katharina Narbutovic

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