zum Hauptinhalt

Kultur: Neverland ist abgebrannt

Warten auf das Urteil gegen Michael Jackson

Eine Zeit der Schauprozesse. In Moskau wird nach einem Strafverfahren, das unabhängigen Beobachtern revolutionäre Röte ins Gesicht trieb, der Ölmagnat Michail Chodorkowski zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Sein Verbrechen: Er hat zu schnell ein allzu großes Vermögen angehäuft. Der russische Raubtierkapitalismus frisst seine Kinder.

In Santa Maria, Kalifornien, brütet die Jury über dem Schicksal Michael Jacksons. Dem immer gespenstischer ausschauenden „King of Pop“ drohen bis zu zwanzig Jahre Gefängnis, sollte er in allen zehn Anklagepunkten des Kindesmissbrauchs schuldig gesprochen werden. Der Staatsanwalt hat Jackson in seinem Schlussplädoyer als pädophiles Monster beschimpft. Der Verteidiger bezichtigt die für Jackson gefährlichsten Zeugen des Meineids. Eine von Tag zu Tag schwindende Fangemeinde vor dem Gerichtsgebäude hält mit verzweifelt hilflos anmutenden Plakaten Wacht: „Michael Jackson is Love!“

Egal wie das Urteil ausfällt, man wird wohl nie erfahren, was wirklich auf der Märchenranch und in dem von vielerlei Albträumen bevölkerten Gerichtssaal geschah – wer Opfer und wer Täter ist. Darin liegt die Dramatik des Falles Jacko. Da wollte einer, der schon als Fünfjähriger auf der Bühne stand und nie eine Kindheit hatte, dem Pop etwas zurückgeben, was Pop nie besaß. Unschuld.

Was geht jetzt in den Köpfen der Geschworenen vor? Sie haben einen Mann gesehen, der an eine Frau nach missglückten Schönheitsoperationen erinnert, einen weißen Schwarzen, ein 46-jähriges Wesen, das nur noch atemlos flüstern kann und vor den Augen der Welt zu Staub zu zerfallen scheint. Als gelte es das Jüngste Gericht, beschrieb die Anklage Michael Jacksons Welt als ein „Meer von Pornografie und Alkohol“. Das war, halten zu Gnaden, schon immer der Anfangsverdacht, der gegen Rock’n’Roll und Pop auf Vorrat gehalten wurde, seit Elvis in den Fünfzigerjahren sein Becken kreisen ließ; ein kleiner Hüftschwung für einen Mann, eine Erschütterung für die ganze Menschheit.

Man muss sich vor Augen führen, wer unter der Sonne Kaliforniens auf seinen Richtspruch wartet: der Entertainer, der einmal das meistverkaufte Album aller Zeiten („Thriller“) auf den Markt gebracht hat, der mit der Presley-Tochter verheiratet war und die Rechte an etlichen Beatles-Klassikern besaß. Der, zumal in Afrika, wie ein Gott gefeiert wurde, der Millionen über Millionen Dollar verpulverte, um die Zeit anzuhalten und ewige Kindheit heraufzubeschwören. Die Neverland-Ranch: Xanadu, Disney-World, Neuschwanstein. Ein bizarres Imperium, und es ist implodiert.

Vor diesem spektakulären, spekulativen Hintergrund wird das Leid der Kinder, wenn sich Michael Jackson tatsächlich an ihnen vergriffen hat, zur Arabeske. Während des langwierigen Prozesses ist auch immer wieder der böse Verdacht aufgekommen, dass kaputte Familien sich in der Öffentlichkeit produzieren, um irgendwie ein Stückchen von Jacksons schwindendem Vermögen abzubekommen, auf Kosten ihrer Kinder. Ist ein Szenario undenkbar, in dem alle Beteiligten lügen?

In Kentucky hat sich dieser Tage eine katholische Diözese durchgerungen, 120 Millionen Dollar an Opfer sexueller Misshandlungen zu zahlen. Es ist eine kleine Diözese, und die Schweinereien von Priestern und anderen Kirchenangehörigen zogen sich über fünf Jahrzehnte hin. Offenbar ein strukturelles Problem, belgische Verhältnisse in den USA: Ähnlich hohe Entschädigungen musste die katholische Kirche in Boston und in Orange County, Kalifornien, leisten. An Menschen, die jung waren und erleben mussten, dass ihre Geistlichen keine Heiligen sind. Was immer aber Michael Jackson getan hat, er tat es allein.

Rüdiger Schaper

Zur Startseite