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Kultur: New York: Der geheilte Himmel

Noch immer raucht der Trümmerhaufen an der Stätte des Massenmordes von New York, und das gespenstische Skelett der Fassadenreste überragt die Szenerie. Während die Stadt noch immer von der Drastik der Katastrophe gefangengenommen ist, hat sich recht schnell eine Debatte um die mögliche Zukunft des Geländes entwickelt.

Noch immer raucht der Trümmerhaufen an der Stätte des Massenmordes von New York, und das gespenstische Skelett der Fassadenreste überragt die Szenerie. Während die Stadt noch immer von der Drastik der Katastrophe gefangengenommen ist, hat sich recht schnell eine Debatte um die mögliche Zukunft des Geländes entwickelt. War die symbolische Kraft des World Trade Centers (WTC) schon stark genug, um solche Attacken zu provozieren, so ist der Ort nun noch stärker besetzt mit Bedeutung, Emotion und weltweiter Aufmerksamkeit. Grabstätte tausender Opfer, Wunde der amerikanischen Supermacht, Symbol für zerstörerischen Fanatismus, Mahnstätte für ausstehende Rechnungen oder zukünftige globale Vorsicht - so lauten einige der aktuellen Zuschreibungen. Gleichzeitig handelt es sich um den wertvollsten Grund und Boden im Zentrum des globalen Kapitalismus.

Zum Thema Online Spezial: Kampf gegen Terror Schwerpunkt: US-Gegenschlag, Nato und Bündnisfall Schwerpunkt: Osama Bin Laden Schwerpunkt: Afghanistan Schwerpunkt: Islam & Fundamentalismus Schwerpunkt: Innere Sicherheit Chronologie: Terroranschläge in den USA und die Folgen Fotostrecke: Bilder des US-Gegenschlags Umfrage: Bodentruppen nach Afghanistan? Genau darauf zu bestehen, hätte natürlich ebenfalls starke Signalwirkung. Zunächst dominierten Extremreaktionen. Man solle das WTC nach den Originalplänen wieder aufbauen, höchstens noch massiver und vielleicht ein wenig höher, sagten die einen, darunter Alt-Bürgermeister Ed Koch - und nach Umfragen jeder zweite New Yorker. Andere fanden es ganz und gar unmöglich, an dieser Stelle jemals wieder normale Bauten zu errichten, geschweige denn Bürogebäude. So äußerten sich etwa die Künstlerin Barbara Kruger oder der Bildhauer Joel Shapiro, Schöpfer einer Denkmal-Skulptur vor dem Holocaust-Museum in Washington. Einen Park, ein leeres Gedenkfeld mit konservierten Ruinenteilen, eine dauerhafte Lichtskulptur in Form der beiden Türme oder gar einen leeren Geisterturm ohne jede Funktion - auch das wurde vorgeschlagen. Die Debatte hat sich seither zwischen diesen Extremen bewegt, zwischen Trotz und Betroffenheit, wirschaftlichem Denken und verewigter Trauer, zwischen Restauration und Reflektion. Der New Yorker Peter Eisenman, Architekt des Berliner Holocaust-Mahnmals, erlebte das Verhängnis von seinem Balkon aus mit. Er hält den Ruf nach einem schlichten Wiederaufbau für eine Kurzschlussreaktion. Büros seinen durchaus wieder möglich, doch man müsse schon eine würdige und deutlich präsente Form finden, der Opfer zu gedenken. Eine solche Mischgestaltung scheint nach der ersten Runde von Diskussionsbeiträgen am wahrscheinlichsten.

"Die Idee, das alles leer zu lassen, ist doch Unsinn. Es wird natürlich eine Gedenkstätte geben", betont Ex-Bürgermeister Koch, "aber wir haben dort schließlich auch über 1,4 Millionen Quadratmeter Büroflächen verloren. Die müssen ersetzt werden." Für einen Wiederaufbau von Bürotürmen ist auch Larry Silverstein, der Pächter des WTC-Grundstücks. Er hatte erst im Juli einen Nutzungsvertrag über 99 Jahre mit dem Eigentümer, der New Yorker Hafenbehörde Port Authority, unterzeichnet. Silverstein wirbt nun seit zwei Wochen um finanzielle Unterstützung und engagierte den Architekten David Childs, um erste Pläne zu erstellen. Childs arbeitet für die Architektenfirma, die unter anderem den Sears Tower in Chicago entworfen hat. Er schlug einen Ring von vier Türmen vor, jeweils halb so hoch wie die Twin Towers. Das würde genügend Platz für Gedenkstätten und die Unterbringung kultureller Einrichtungen lassen, etwa eines Jazz-Museums.

Die Forderung nach der Einbeziehung von öffentlichen Räumen und Kulturinstitutionen ist von vielen Seiten zu hören. Richard A. Kahan, ehemals Vorsitzender der State Urban Development Corporation, möchte die New Yorker Börse auf das WTC-Gelände verlegen und die geplante neue Filiale des Guggenheim-Museums mit einbeziehen.

Man fragt sich in der "vertikalen Stadt" nun aber auch nach dem Hochhaus selbst. Wird ein neuer Wolkenkratzer arrogant und großspurig wirken, gar ein neues Ziel für Terroristen darstellen? Ob die unbestrittene Weltmetropole New York nicht durch den Vezicht auf das Statussymbol "Höhe" souveräner reagieren würde, fragte die "New York Times". Rentabel ist es sowieso nur bis zum achtzigsten Stockwerk, und nach der Ansicht von Renzo Piano gehört der gigantische Wolkenkratzer ins vergangene Jahrhundert. Ein selbstbewusster und auftrumpfender Beweis technologischer Möglichkeiten auf der Asche von 5000 Toten scheint ihm respektlos und unangemessen. Auf der anderen Seite argumentieren viele, dass der Wolkenkratzer noch immer der bedeutendste Beitrag Amerikas zur Architekturgeschichte sei, so Robert A.M. Stern von der Yale School of Architecture. Ein Verzicht darauf würde für ihn den Sieg der Terroristen signalisieren.

Über den visuellen Verlust des früher bei den New Yorkern so unbeliebten WTC in der Skyline sind sich darüber hinaus alle einig. Die Twin Towers haben das weltweite Bild der Stadt verankert, sie haben die Häuserkurve ins Gleichgewicht gebracht. Sowohl die historisch-symbolischen als auch die ästhetisch-architektonischen Ansprüche an die Neugestaltung des WTC-Geländes werden sich letzten Endes an wirtschaftlichen Gegebenheiten ausrichten müssen. Zunächst einmal sind die Kosten der Katastrophe und einer anschliessenden Neubebauung für die Stadt New York astronomisch. Stadtkämmerer Alan Hevesi schätzte sie in der letzten Woche auf rund 100 Milliarden Dollar. In dieser Woche bat die Stadt New York die US-Regierung um eine weitere Unterstützungszahlung von 20 Milliarden Dollar, zusätzlich zu den sofort vom Kongress zugesagten 20 Milliarden. Die Neugestaltung wird nicht nur Geld, sondern auch viel Zeit kosten, einige Jahre ganz sicher. Der Bau des 1973 fertiggestellten WTC hatte insgesamt fast ein Jahrzehnt gedauert.

Je länger Aufräumarbeiten und Neubau dauern, desto unkalkulierbarer ist auch das Mieterinteresse an neuen Büroflächen. Obwohl sich die meisten der betroffenen Firmen aus dem WTC derzeit loyal zu New York äussern, sagen viele Beobachter einen Prozess der Dezentralisierung voraus, so der Soziologe Richard Sennett. Viele der Firmen mieten nun Büros in Midtown, in New Jersey oder Long Island. Ob sie in ein paar Jahren zurückkommen, um wieder alles an einem Ort zu konzentrieren - und zu riskieren -, weiß niemand. Viele glauben jedoch fest an die Anziehungskraft einer renovierten Downtown und den ökonomischen Wert einer symbolischen Adresse.

Unerwartete Unterstützung für einen Neubau mit hoher Konzentration von Büroflächen kam kürzlich von mehreren Umweltgruppen. Sie äußerten Bedenken gegenüber unzähligen verstreuten Neubauten in den Vorstädten und zusätzlicher Luftverschmutzung durch neuen Pendlerverkehr, falls das WTC nicht wiedererrichtet würde.

Niemand, der über neue Bedeutung und neue Gestaltung des WTC-Ortes nachdenkt, kann ignorieren, dass Downtown New York identisch ist mit dem Financial District. Es wird diese Identität wohl auch beibehalten, ob nun alle Firmen zurückkehren oder nicht. Ist es wirklich überzeugend, dass solche Unternehmen an dieser Stelle taktloser wären als etwa ein Guggenheim-Museum? Und wer sich überhaupt keine Gebäude an dieser Stelle vorstellen kann, scheint zu vergessen, dass zerbombte Städte auch immer wieder aufgebaut worden sind, ohne dabei Opfer und Hinterbliebene zu übergehen. Woran würde eine wirklich drastische Leere an dieser Stelle erinnern - und wen?

Die Positionen zur Neugestaltung hängen mit der historischen Interpretation des Ereignisses zusammen, und die wiederum entwickelt sich mit dem Verlauf des nun offen ausgebrochenen Krieges. Sicher ist bisher nur, dass es eine Gedenkstätte geben wird. Es soll bald eine eigene Rekonstruktions-Behörde geben, die das komplexe Geflecht aus Symbolik, Gestaltung, Wirtschaft, Infrastruktur und den Gedenkansprüchen der Opfer ausbalancieren muss. Die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des neu entstehenden Ortes ist dabei so wenig abzusehen, wie von den Planern und Architekten tatsächlich zu kontrollieren.

Ralph Obermauer

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