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Kultur: Nichts als das Leben

Eine junge Frau im Badeanzug als Rückenfigur am Strand sitzend, vor sich das Meer, die Küstensilhouette und die Andeutung eines Zeichenblocks, durch den das Blau des Wassers schimmert.Auf ihrem Rücken stehen mit den gleichen schnellen Pinselstrichen, mit denen das Blatt gemalt wurde, die Worte "Leben oder Theater".

Eine junge Frau im Badeanzug als Rückenfigur am Strand sitzend, vor sich das Meer, die Küstensilhouette und die Andeutung eines Zeichenblocks, durch den das Blau des Wassers schimmert.Auf ihrem Rücken stehen mit den gleichen schnellen Pinselstrichen, mit denen das Blatt gemalt wurde, die Worte "Leben oder Theater".Dies ist zugleich, mit zwei Fragezeichen versehen, der Titel, den Charlotte Salomon ihrer mehrere hundert Gouachen umfassenden autobiographischen Bildererzählung gab.Die junge Frau am Strand stellt sie selbst dar.Ebenso wie ihr unermüdlich in 18 Monaten entstandenes Werk ist dies jedoch nur ein Moment des Innehaltens, bevor ihr Schicksal seinen Lauf nahm und sie 1943 mit ihrem Mann von der Gestapo in einem Versteck im französischen Villefranche aufgegriffen und nach Auschwitz deportiert wurde.

Vor diesem Hintergrund bekommt das von Charlotte Salomon als "Singspiel" gedachte Werk seine besondere Bedeutung.Die damals 25jährige ahnte wohl, daß es ihr Vermächtnis sein würde.Dem Hausarzt ihrer Großeltern, bei denen sie seit 1939 in Südfrankreich gelebt hatte, übergab sie es kurz nach der Vollendung mit der Bitte, gut auf die Bilder aufzupassen: "Es steckt mein ganzes Leben darin." So ist "Leben? oder Theater?" mehr als nur die Darstellung einer jüdischen Kindheit und Jugend in Berlin unter den bedrückenden und schließlich lebensbedrohlichen Umständen des Dritten Reiches.In ihrer künstlerischen Komplexität ist diese Autobiographie von außerordentlichem Rang.Die Royal Academy of Arts in London präsentiert nun knapp die Hälfte der von Charlotte Salomon eigens zusammengestellten Blätter im Rahmen der "German Season", einer Konzerte, Ausstellungen, Vorträge umfassenden Veranstaltungsreihe aus Anlaß des Anfang Dezember anstehenden Besuchs des Bundespräsidenten.Die Arbeiten sind eine Leihgabe des Jüdischen Historischen Museums in Amsterdam.

Die dichtgehängte Ausstellung läßt wohl niemanden unberührt.Das Schicksal Charlotte Salomons, die Tragödie ihrer Familie, die Intensität der von ihr dazu gewählten Illustration ziehen den Betrachter in seinen Bann.Auf der Suche nach den adäquaten Ausdrucksformen bediente sie sich beständig wechselnder Stile - vornehmlich inspiriert vom deutschen Expressionismus, aber auch mit Reverenzen an Edvard Munch und Marc Chagall.Je nach Bedarf nutzte sie aber auch die Bildsprache der Storyboards und kam zu einer Comicstrip-artigen Erzählweise.Der große zeitliche Druck, den die Künstlerin spürte, scheint bei ihr explosionsartige Kreativitätsschübe ausgelöst zu haben.Innerhalb weniger Wochen machte sie rasante Entwicklungen durch, die sie immer radikalere Ausdrucksformen suchen ließ.Dabei ist letztlich die Präsentation als Museumsausstellung kaum die angemessene.Charlotte Salomon hatte ihr Werk als "Singspiel" geplant; jedes Blatt hat seine eigene Melodie, sein eigenes Lied.Offensichtlich hat man sich die endgültige Form als eine Art Musical vorzustellen.

Tatsächlich trägt "Leben? oder Theater?" heitere Züge, wie man sie sich unter den dargestellten Umständen kaum vorstellen mag.Die Erzählung beginnt mit dem Selbstmord der Tante, deren Namen Charlotte später tragen soll.Es folgt der Suizid der Mutter, der dem achtjährigen Mädchen verheimlicht wird, gegen Ende der Erzählung schließlich der Selbstmord der Großmutter, den die bei ihr im Exil lebende Enkelin nicht verhindern konnte.Ihre danach begonnene Autobiographie, in der sie den Protagonisten zum Teil verfremdende Namen gibt, hat also auch die Funktion, sich vom Familienfluch zu befreien, der Todessehnsucht ihrer Tante, Mutter, Großmutter und anderer Verwandter die künstlerische Auseinandersetzung, mithin das Leben entgegenzusetzen.

Dies geschieht in so anrührenden Szenen wie jener in ihrer Kindheit, in der sie sich den zu Lebzeiten versprochenen Brief der Mutter mit einer Beschreibung des Himmels herbeisehnt.Oder in jenen obsessiven Begegnungen mit dem Gesangslehrer ihrer Stiefmutter, der sie zur Kunst animierte und ihr half, Leid als Ursprung aller Kreativität zu verstehen.Zumindest in die Kunst vermochte Charlotte Salomon sich zu retten.Den ihr nach dem Leben trachtenden Mächten aber konnte sie sich nicht entgegenstellen.Womöglich lag hinter ihrer Entscheidung, im Sommer 1943 im besetzten Frankreich in aller Öffentlichkeit einen anderen jüdischen Emigranten zu heiraten, ein selbstmörderischer Impuls.Nur fünf Monate später wurden beide von den nationalsozialistischen Schergen gefaßt und nach Deutschland geschafft.Als ihr Vermächtnis ist ihre lebensbejahende Autobiographie geblieben, die dem Vergessen trotzt.

Royal Academy of Arts, London, bis 17.Januar; Katalog 19,95 Pfund.

NIOCOLA KUHN

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