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© dpa

Nick Cave im Tempodrom: Die Hölle bricht los

Er ist gealtert, wirkt ausgemergelt und hochstirnig - und strotzt dennoch vor Kraft. Nick Cave überlässt die Altersmilde anderen und rockt das Tempodrom gemeinsam mit seiner Band "the Bad Seeds".

Irgendjemand sollte mal untersuchen, was Haarausfall mit Rock’n’Roll zu tun hat. Man müsste da wohl drei Kategorien von Künstlern unterscheiden: solche, die gemeinsam mit ihrem Publikum verglatzen (wie die Scorpions); solche, die noch im hohen Alter vollmähnig ein längst enthaartes Publikum bespielen (die Stones); und solche wie den inzwischen 50-jährigen Australier Nick Cave, der seinen rückwärtswandernden Haaransatz auch durch üppig wuchernde Bartexperimente nicht mehr verhehlen kann – während sein Publikum am Mittwoch im Tempodrom auffallend jung und unverglatzt antritt.

Infernalisches Instrumentalgewitter

Ist es dieser Kontrast, der beim Erscheinen der Band auf der Bühne einen klitzekleinen Moment lang die Frage provoziert, ob es dieser merklich gealterte Cave überhaupt noch bringen kann? Zwei Sekunden später bricht die Hölle los, Cave entfacht ohne Luftholen und Anzählen ein infernalisches Instrumentalgewitter, und überganglos ist man mittendrin in der peitschenden Dauerpredigt des Reverend of Rock Nick Cave und seiner höllischen Heerscharen, der Bad Seeds. Hochstirnig zwar und ausgemergelt, aber kraftstrotzend wie je reckt Cave am Bühnenrand den mahnenden Priesterfinger gen Himmel, das Mantra des Eröffnungssongs ein Willkommensgruß an die Gemeinde: Get ready to shield yourself! Er kann’s. Bei Gott, er kann’s noch immer.

Für alle, die gezweifelt haben, schickt Cave den Titelsong des neuen Albums hinterher: „Dig, Lazarus, Dig“, seine Ode an den wiederauferweckten Toten des Johannesevangeliums. „Nehmt den Stein weg!“, lautet dort Christus’ Aufforderung am Grab des Verstorbenen – und die zweifelnde Antwort der Gemeinde mag Cave auch auf sich selbst bezogen haben: „Herr, er riecht aber schon.“ (Joh. 11,39). Dass hier nichts, aber auch gar nichts komisch riecht, dass ein Nick Cave zudem immer noch selbst bestimmt, wann gestorben und wiederauferstanden wird, das schreit er seinem Publikum im Refrain entgegen: I want you to dig yourself, Lazarus / Dig yourself back in that hole!

Schweißnass, aber glutäugig

Mag dieser Lazarus auch eine Figur des Neuen Testaments sein, so ist Cave, nach einer langen Phase der versöhnlicheren Motivsuche in christlichen Gefilden, inzwischen wieder voll und ganz beim alttestamentarischen Zorn seiner Anfangstage angekommen. Eine Entwicklung, die sich mit „Babe, I’m on Fire“, dem furiosen Abschlusssong des Vorgängeralbums, bereits abzeichnete, mit Caves exzessiv lärmwütigem Seitenprojekt Grinderman im vergangenen Jahr vertieft wurde und mit dem neuen Bad-Seeds-Album endgültig Programm ist. Altersmilde sollen andere werden, diktierte Cave denn auch in den vergangenen Monaten so manchem Interviewer in den Block. Ihn selbst packe mit jedem Jahr, das er in diesem ungastlichen Universum zubringen müsse, der heilige Zorn umso inniger.

Auch das schreit Cave beim Auftritt seinem Publikum entgegen, als die Band nach zwei Stunden in die Zugabenverlängerung geht. Den nächsten Song, sagt Cave, widme er allen, denen die Welt ein Rätsel bleibe – „auf dass ihr danach doppelt so verdammt verwirrt seid!“ Wieder lässt Höllenlärm das Tempodrom erzittern, und Cave, die eine Hand an der Orgel, die andere zornig gen Himmel gereckt, erreicht den Höhepunkt seiner Predigt, die Gott im Himmel zur Rechtfertigung seines irdischen Werkes herausfordert: We call upon the author to explain!

So geht das weiter, unfassbare zweieinhalb Stunden lang, die dem Publikum fast mehr physisches Durchhaltevermögen abzufordern scheinen als Cave selbst – der, schweißnass zwar, aber glutäugig bis zum Schluss, das Konzert mit dem Klassiker „The Mercy Seat“ ausklingen lässt. An eye for an eye / A tooth for a tooth / And anyway I told the truth / And I am not afraid to die. Todesangst, wozu? Unter der Erde stinkt die Welt nicht mehr.

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