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Im Innern des Landes. Eine Stadt mit einem solchen Marktplatz verdient es, die politische Arithmetik der Bundesrepublik durcheinander zu bringen.

© dpa

Niedersachsen-Wahl: Oh, wie schön ist Hildesheim!

334 Stimmen haben am Ende in Niedersachsen zugunsten von Rot-Grün entschieden und die Entscheidung fiel in Hildesheim. Aber wie ist es dort und, ja liebe Hildesheimer, wo ist das eigentlich? Unser Autor Johannes Schneider hat die Stadt gefunden, kennen und sogar tatsächlich auch lieben gelernt. Eine Huldigung.

„Das alles“, sagte meine Mutter und zog an ihrer Zigarette, „weckt in mir Fluchtinstinkte.“ Wir liefen gerade über den Campus der Universität Hildesheim, ein merkwürdiges, von architektonisch-überambitionierten Treppenhausröhren strukturiertes Betonflachbaugeviert mit – mittig – einer Art Rasenaquarium. Ein Ensemble, das wohl nur bei erklärten Liebhabern der Spätmoderne wärmere Gefühle aufkommen lässt. Zuvor hatten wir (man schrieb das Jahr 2004) in einem noch schmuckloseren Plattenbau am Waldrand mein erstes Studentenzimmer eingerichtet – in einem evangelischen Wohnheim, das bis heute das trostloseste aller im Namen Gottes errichteten Gebäude ist, die ich in meinem Leben betreten habe.

Ich selbst schaute damals auch recht sparsam. In meiner Familie studierte man traditionell in „schönen“ Uni-Städten. Das war der Anspruch, mit dem ich, damals 19, in die Welt zog. Ein bis auf einen in Legolandperfektion überrekonstruierten Marktplatz gründlich zerbombtes und später lieblos neu dahingeschludertes Provinznest, dem man seine Vergangenheit als Rosen- und Fachwerkstadt, als „Ravenna“ oder alternativ: „Nürnberg des Nordens“ nur sehr gelegentlich ansah, passte mir damals nicht wirklich ins Beuteschema. „Ich versuche es hier mal“, sagte ich und dachte an all das Gute, das ich hier studieren wollte. Wirklich viel gab ich allerdings auf Hildesheim, mich und unsere gemeinsame Zukunft nicht.

Ich blieb sechs Jahre. Ich lernte eine Stadt lieben, die vom ersten Ansehen – Der Blick über den Bahnhofsvorplatz gehört selbst für mich als Kummer gewohntes Kind des Ruhrgebiets zu den grausameren Hervorbringungen des Wiederaufbaus – so wenig liebenswert erscheint. Ich lernte mich pudelwohl zu fühlen: zwischen verbiesterten Alteingesessenen, die mir das Fahrrad aus der Hand schlugen, wenn ich es – „Hallo, Fahrräder sind hier verboten!“ – durch die Fußgängerzone schob; und einem studentischen Umfeld, das sich – angelockt von einer sehr progressiven und experimentierfreudigen kulturwissenschaftlichen Fakultät – irgendwie einen Reim auf dieses oft so empfundene „Kaff“ zu machen suchte und es dabei (zu oft, wie ich fand) in Bausch und Bogen verurteilte.

Diese Mischung gab mir – anders als Berlin, das selbst in seinen spießigen Ecken irgendwie grandios ist – die Möglichkeit eines gedeihlichen Szenenwechsels: Wurde mir die Mini-Bohème zu hysterisch, spazierte ich stundenlang zwischen Jägerzäunen. Erdrückte mich die kleine Stadt, traf ich mich mit Menschen, die mehr dem Klischee des kunstsinnigen Großstadtcharakters entsprachen als die meisten Berliner, die ich seit meinem Umzug von Hildesheim hierher getroffen habe. Ich lernte Bands kennen, die mit Ironie nach Ausgleich suchten, und Kneipen, in denen die Welten der hier angenehm bodenständig (und keinesfalls verbiestert) auftretenden Urbevölkerung und der Zugereisten aufs Herrlichste ineinander drifteten. Ich knüpfte ein Netzwerk, das bis heute nicht zuletzt den Tagesspiegel mit streitbaren Texten versorgt. Ich hatte eine saugute Zeit.

Der Hildesheimer Urmythos

Vor allem aber lernte ich den Hildesheimer Urmythos erzählen – oder das, was ich bis heute dafür halte: Wenn Freunde aus der ganzen Welt fragten, wie diese Stadt denn nun sei, erzählte ich nicht, wie das Stadtmarketing, von den zwei Welterbestätten, der altägyptischen Sammlung oder den Resten der alten Fachwerkstadt. Ich erzählte aber auch nicht wie die Kommilitonen von der Zumutung, in einer Stadt leben zu müssen, deren Nachtleben sich zwischen (schwankend) drei bis sechs akzeptablen Weggehläden abspielt.

Ich erzählte die Geschichte des bis heute amtierenden Oberbürgermeisters Kurt Machens. Der wurde im Jahr 2005 zwar durch das Landgericht Hildesheim vom Vorwurf der Bestechlichkeit freigesprochen. Und trotzdem: Dass Machens, der nach schweren Korruptionsvorwürfen 2002 von der CDU fallengelassen worden war, genau in diesem Jahr 2005, in dem ihm sein erster Prozess gemacht wurde, mit einem „Bündnis für Hildesheim“ einen triumphalen Wahlsieg über just diese CDU errang, charakterisiert diese Stadt, die zwischen Fachwerktrümmern nach Leitbildern und Identität sucht, aufs Sympathischste und Skurrilste. Sie bräuchten eben "Typen", sagten mir Hildesheimer in Bezug auf ihren OB immer wieder - auch noch, als Machens schließlich nach einer Revision vor dem Bundesgerichtshof 2006 im Jahr 2007 vom Landgericht Göttingen wegen Untreue zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden war. Die Geschichte ist aber auch fast zu possenhaft-süß, um ernsthaft böse zu sein: Ein privater Verein um CDU-Ratsherren und Oberbürgermeister mit dem genialen Namen „Pecunia non olet“ sammelt Spenden, unter anderem von Energieriesen, die zeitgleich an die Hildesheimer Stadtwerke heranwollen, in deren Aufsichtsrat… Aber ach, ich langweile die Hildesheimer, die das hier natürlich lesen, weil sie – wie ich – alles lesen, was diese kleine Großstadt südlich von Hannover angeht, die nichts härter trifft als das ewige „Wo liegt das eigentlich?“ der Auswärtigen.

Dass diese Stadt nun mit 334 Stimmen, die SPD-Direktkandidat Bernd Lynak bei der Landtagswahl am Sonntag letztlich vor seinem CDU-Konkurrenten Frank Wodsack lag, die politische Arithmetik der kompletten Bundesrepublik durcheinander gebracht hat, bereitet mir – völlig unabhängig von politischen Sympathien – eine diebische Freude. Dass man es, wie es ein befreundeter Politikjournalist am Montag auf Facebook tat, auch so wenden kann, dass es Studierende der Universität waren, die dabei den Ausschlag gaben (was sie vielleicht ein wenig mit ihrem dortigen Dasein versöhnt), steigert dieses Gefühl noch einmal. Dass das natürlich eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte ist – Zufall, dass es grad hier besonders eng wurde, während es in ganz Niedersachsen eng wurde – geschenkt!

Hildesheim ist ein würdiges Fleckchen, das Land zu verändern. So sehr liegt es in vielerlei Hinsicht in seiner Mitte. Und außerdem: Mir gibt das, da von den Kollegen des Tagesspiegels gefordert, die Möglichkeit für eine kleine, schnelle Huldigung. Ich habe sie gern geschrieben.

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