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Kultur: Noch radikaler

In der Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ erscheint nun der siebte Band

Werner Ranck, seinerzeit Verbindungsoffizier der 11. Armee der Deutschen Wehrmacht, fragte sein Gegenüber von der SS-„Einsatzgruppe D“ pikiert, „ob gegen die von den Rumänen durchgeführten unsachgemäßen und sadistischen Exekutionen in geeigneter Form eingeschritten und diese verhindert werden könnten“. Das war am 16. Juli 1941, knapp einen Monat nach Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion, der „Operation Barbarossa“, nachdem rumänische Soldaten bei der Einnahme eines Ortes in Transnistrien mehrere hundert Juden ermordet hatten. Gerade so, wie es der rumänische Landwirtschaftsminister, General Ion Sichitiu, eine gute Woche zuvor im Ministerrat gefordert hatte: „Es gibt nur ein einziges Mittel, uns von diesen Wanzen zu befreien: ausrotten, mit Stumpf und Stiel ausrotten.“

Die Brutalität, mit der die rumänischen Truppen vorgingen, wurde von der NS- Führung aufmerksam registriert. So äußerte sich Hitler am 18. August 1941, wie Goebbels in seinen Tagebüchern festhält, ausgesprochen beeindruckt: „Was die Judenfrage anlangt, so kann man heute jedenfalls feststellen, dass z.B. ein Mann wie Antonescu noch viel radikaler vorgeht, als wir das bisher getan haben.“

Nun hat das rumänische Vorgehen gewiss nicht die Judenpolitik des NS-Regimes geprägt. Aber es ist insofern paradigmatisch, als es die Radikalisierung der Judenverfolgung in einem sehr kurzen Zeitraum von wenigen Tagen demonstriert. Dazu bedurfte es augenscheinlich nicht eines besonderen, „exterminatorischen“ Judenhasses, wie er in jüngerer Zeit zur Erklärung der deutschen Verbrechen bemüht worden ist.

Die Verbrechen eskalierten im Gefolge des Krieges: „Zwischen August und Oktober 1941 vollzogen die Mordkommandos schließlich den entscheidenden Schritt vom Terror zum Völkermord, als sie ganze Gemeinden einschließlich aller Frauen und Kinder auslöschten“, heißt es eingangs von Band 7 der VEJ, „Sowjetunion mit annektierten Gebieten I“ von Bert Hoppe und Hildrun Glass.

VEJ – das ist die auf 16 Bände angelegte Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 19331945“, die gemeinsam vom Bundesarchiv, dem Institut für Zeitgeschichte sowie den Lehrstühlen für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg und für Geschichte Ostmitteleuropas an der Freien Universität Berlin herausgegeben wird. Das ambitionierte wie notwendige Unternehmen wurde im Januar 2008 mit Erscheinen des ersten Bandes der Öffentlichkeit vorgestellt und hat nun, dreidreiviertel Jahre später, mit dem als vierter Veröffentlichung herausgekommenen Band 7 ein Viertel seiner Wegstrecke zurückgelegt. Bis 2016 soll und muss die Edition abgeschlossen sein: Bis dahin ist die Finanzierung unter anderem der sieben Bearbeiter durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gesichert.

Die VEJ ist eine Quellenedition, wobei nicht allein die Edition dieser Quellen, sondern ebenso ihr weites Spektrum hervorzuheben ist, „vom Aktenvermerk Reinhard Heydrichs“ über einen „Artikel des New Yorker ,Aufbaus’ über die Lage der sowjetischen Juden im Sommer 1941“ bis zum „Abschiedsbrief einer Jüdin aus dem Getto von Vitebsk an ihre Kinder“. Dass der Organisierung der „Maßnahmen“ in den eroberten Gebieten der immer konkreter werdende Wille zur Ermordung von Zivilisten vorausging, bleibt festzuhalten. Insbesondere wurde jeder Jude als potenzieller Partisan betrachtet und sollte gewissermaßen präventiv ermordet werden. Himmlers Stellvertreter Heydrich, dessen Verantwortung als Ausführungsplaner des Judenmords anhand der Quellen nur noch deutlicher hervortritt, „legte Wert darauf, dass die Einsatzgruppen (der SS) völlig freie Hand hatten“.

Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist das geheime Schreiben Himmlers an ausgewählte SS-Führer vom 2. Juli 1941, demzufolge „alle zu treffenden Maßnahmen“ wegen der „bolschewistischen Gestaltung des Landes mit rücksichtsloser Schärfe auf umfassendstem Gebiet durchzuführen“ seien. Diese Maßnahmen werden präzise aufgeführt: „Zu exekutieren sind alle Funktionäre der Komintern, die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützer, Attentäter, Hetzer usw.)“. Ein „usw.“ ohne Ende.

Die Dokumente unterstreichen die Worte von VEJ-Projektleiterin Susanne Heim: „Wir wissen, es war alles ganz grausam – aber keiner hat eine Vorstellung davon, wie es tatsächlich war.“ Wie es tatsächlich war, werden wir Nachgeborenen nie ganz verstehen können, aber eine Ahnung vermittelt die VEJ. Hinter sie kann künftig niemand zurück, der das NS-Regime und seine Politik des Völkermords beurteilen will.

Der Band 7 wird am 26. Oktober um 19 Uhr in der Topographie des Terrors (Niederkirchnerstr. 8) mit einem Vortrag des SPD-Bundestagsabgeordneten Gernot Erler und Diskussion mit den Bearbeitern des Bandes vorgestellt. Der Eintritt ist frei.

Bert Hoppe,

Hildrun Glass (Hg.):
Die Verfolgung und

Ermordung der

europäischen Juden 1933–1945, Band 7. Oldenbourg Verlag, München 2011.

891 Seiten, 59,80 Euro

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