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Kultur: Not und Spiele

Die wunderbare Welt des Dichters Daniil Charms – wiederbelebt von Peter Urban

Daniil Charms, der 1905 in St. Petersburg geborene und 1942 im belagerten Leningrad in einem Gefängnisspital verhungerte Dichter, gehört zu den verblüffendsten Figuren der russischen Literatur. Heute ist sein Name allen, die sich für Poesie interessieren, ein Begriff. Und das ist ein wahres Wunder: Denn zu Lebzeiten durfte er hauptsächlich Kindergedichte publizieren und war als Lyriker, Dramatiker und Prosaautor nur im engen Kreis der Leningrader Boheme bekannt. Erst seit den sechziger und siebziger Jahren verbreiteten sich allmählich seine Texte, zunächst als illegale Schreibmaschinenkopien, was Charms zu einem Kultautor für Eingeweihte machte.

So entstanden Legenden, etwa die seines Verschwindens: Charms sei eines Tages aus dem Haus gegangen, um Zigaretten zu holen, und für immer verschwunden, genau so, wie es in einem seiner berühmten Kinderreime beschrieben ist. Dann, zur Zeit der Perestrojka, erschienen endlich Bücher von und über ihn. Das Glück, Charms’ Texte zu kennen, verdanken wir einem mutigen Menschen: Der zu seinem Freundeskreis gehörende Philosoph Jakow Druskin kam im von Deutschen belagerten, hungernden, frierenden Leningrad in die Wohnung des schon verhafteten Charms, verlud dessen Archiv auf einen Kinderschlitten und zog es durch die ganze Stadt zu sich nach Hause. Ohne diese Heldentat wären von Charms nur geniale Kindergedichte geblieben und niemand könnte heute über den komplexen und tragischen Dichter sprechen.

Daniil Charms und seine Dichter- und Philosophenfreunde bildeten einen kleinen Kreis, in dem die originellsten sprachlichen und intellektuellen Experimente gewagt wurden. Kinderliteratur war lediglich ein rettender Brotberuf, und auch der wurde der Obrigkeit schnell verdächtig. Bereits 1931, sechs Jahre vor dem großen Terror, wurden Charms, sein Freund, der große Lyriker Alexander Wwedenskij, und noch einige andere Kinderbuchautoren verhaftet und verbannt. Ihre Literatur war zu verspielt, nicht sozialistisch, nicht pädagogisch genug. 1932 wurden sie dann „umerzogen“ in einen unheimliche Alltag entlassen, konnten ihre Kinderbuchautorenkarrieren fortsetzen, doch waren sie bereits gebrannte Kinder. Sie waren Fremdkörper in einer Gesellschaft, die munter sein wollte, einfach und romantisch, die bauen wollte und tatsächlich baute – Häuser, Fabriken, Arbeitslager. Diese Menschen, Charms und seine Freunde, die in ihrer Jugend selbst „links“ gestanden hatten, zumindest kulturell, fühlten sich als Überbleibsel einer alten Kultur, als komische und kranke Nachzügler. Sie kultivierten den exzentrischen Lebensstil einer aussterbenden Spezies, den speziell Daniil Charms bis zu äußerster Seltsamkeit zuspitzte. Seine Kleidung stilisierte er zum komischen Kostüm, wohl auch, um ihre Ärmlichkeit zu kaschieren. Seine Art zu sprechen war auffallend ungewöhnlich, so dass nicht immer zu unterscheiden war, was er ernst meinte und was nicht. Als er 1941 zum zweiten Mal verhaftet wurde, schockierte er seine Aufseher mit der Behauptung, er wickle eine Binde um seinen Kopf, um seine Gedanken zu verbergen. Wollte er sich krank stellen? War er krank? Das bleibt wohl für immer ein Geheimnis.

Für Daniil Charms in Deutschland hat Peter Urban sehr viel getan. Seine Artikel in der Zeitschrift Schreibheft (Nr. 39-40, 1992 und Nr. 65, 2005) und seine Essaysammlung „Genauigkeit und Kürze. Aussichten zur russischen Literatur“ (Diogenes, 2006) seien dem interessierten Leser, der mehr über Daniil Charms und seine Umgebung erfahren möchte, wärmstens empfohlen.

„Die Wanne des Archimedes“ besteht aus zum größten Teil neuen Übersetzungen und gibt eine gute Vorstellung von der eigenartigen Dichtung Daniil Charms’. Peter Urban verzichtet in seinen Übersetzungen meistens auf den Reim. Dieses Verfahren erlaubt ihm, vieles ins Deutsche zu retten, was dem Reimzwang ansonsten zum Opfer fiele. Im poetischen Denken wird das Bild oder der Gedanke blitzschnell geboren, zusammen mit den vom Dichter benutzten formalen Mitteln, und wenn der Reim zu diesen Mitteln gehört, dann nimmt auch er an diesem Prozess teil. Der Reim ist jedoch nicht Zweck der Übung, sondern ein Instrument. Peter Urban wendet seine Aufmerksamkeit jenen anderen Kleinigkeiten zu, aus denen die Poesie besteht: der Lust am Wortspiel, einer übermütigen Mischung aus Ernst und Witz, einer Ästhetik des Absurden, die Charms und seine Freunde für sich entdeckten und spätere Kunstströmungen vorwegnahmen – all das kann man in diesem Buch finden und genießen.

Daniil Charms: „Die Wanne des Archimedes. Gedichte.“ Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Edition Korrespondenzen, Wien, 2006, 228 S., € 23,-. „Freude pur“: Daniil Charms, eine große Auswahl seiner Gedichte, und alle in der hervorragenden Übersetzung von Peter Urban.

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