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Kultur: Nouvelle Kusine

Rohkost für alle: Dimiter Gotscheff lädt in der Berliner Volksbühne zum „Großen Fressen“

Am Ende des Films „Das große Fressen“ aus dem Jahr 1973, das jetzt an der Volksbühne neu angerichtet wurde, sitzt der große Marcello Mastroianni tot in einem offenen Bugatti, über Nacht erfroren, also eklig weiß und von Raureif überzogen, der möglicherweise nur der Ausdruck seiner geistigen Verschimmelung ist. Tage oder Wochen, das weiß man nicht so genau (der Rausch der Orgie kennt ohnehin nur die Ewigkeit), hat er mit drei so genannten Freunden in einer luxuriösen französischen Villa gefressen und gehurt und wieder gefressen.

Von Beruf ist Mastroianni – wir erinnern uns – Pilot, und weil es in diesem Film unter anderem um das Einswerden von Mensch und Ding geht, steht Mastroianni stark unter Bewegungs- und Kopulatiosdruck: „Ich muss stoßen!“, wie er wiederholt durch die stilvollen Räume der Villa brüllt. Doch als nach den herbestellten Huren schlussendlich auch die Dame des Hauses willig vor ihm liegt, kann er nicht. Zum ersten Mal versagt die lendenfixierte Maschine Mastroianni.

Wie ein kranker Elefant zieht er sich zum Sterben zurück, und das kann in seinem Fall nur die mütterliche Höhlung des Rennwagen-Sitzes sein. Drinnen geht derweil die schweißtreibende Arbeit der Selbstzerstörung weiter. Der Meisterkoch wird weiter zubereiten und fressen, bis er ersticken wird, während der mutterlos aufgewachsene Richter sein Leben schließlich zwischen den Halbkugeln eines wabbelnden Schokoladenpuddings aushaucht.

Vier Männer aus gutbürgerlichen Verhältnissen, und so ist das auch auf dem Theater geblieben, in der Inszenierung von Dimiter Gotscheff, ziehen sich also aufs Land zurück und fressen sich zu Tode. Das ist die einfache Geschichte von Marco Ferreris Skandalfilm, der vor damals vor allem deshalb Aufsehen erregte, weil er nicht die Nahrungsaufnahme von der Ausscheidung trennte, sondern beiden Vorgängen mit einem übertriebenen Sinn für Gerechtigkeit Auge und vor allem Ohr schenkte.

Wenn die Vier nämlich nicht gerade essen oder kopulieren, liegen sie schmerzerfüllt oder apathisch auf Betten oder Sofas herum und geben sich hingebungsvoll ihren Blähungen hin. Die Schlichtheit, mit der Ferreri klassische Dramaturgie durch Speisenfolge ersetzt und die französischen Fetische Essen und Libertinage mästet, bis der degenerierte Wohlstandsdarm platzt, wirkt aus heutiger Sicht fast naiv und erfüllt vom Glauben, auf der richtigen Seite zu stehen. Der eigentliche Skandal ist aber nicht das Große Luftentweichen, sondern die fehlende Motivation des Selbstmords.

Das Ganze bleibt eine Schnapsidee der Regression, bei der alle psychischen Begleiterscheinungen des Sterbens wie Angst, Reue und Erinnerung durch körperliche Qualen wie Verstopfung und Übelkeit ersetzt werden. Dieses Nach- oder Vorpsychologische der Figuren ist im ersten, effekthascherischen Moment die Stärke des Films, der hauptsächlich von Michel Piccolis körperlicher Präsenz und Mastroiannis arroganter Rastlosigkeit lebt. Der Preis dieser vermeintlichen Radikalität aber ist die Langeweile der Wiederholung.

Andréa Ferreol, Hauptdarstellerin und freizügige Bett- und Tischgenossin, bekam nach der Premiere in Pariser Restaurants übrigens Hausverbot.

Man muss so viel über den legendären Film sagen, weil es über Gotscheffs Theateradaption an der Volksbühne so wenig zu sagen gibt, abgesehen davon, dass das Ensemble brilliert und gute Laune hat. Gotscheff hat mit der Vorlage nicht viel angestellt und sich ganz auf die Haltung zurückgezogen, dass Regression eben regressiv ist. Für die aktualisierte Variante Armut 2006 sorgt einzig die Änderung des Speiseplans. Statt französischer Küche gibt es Supermarkt-Kost mit hohem Rohgemüse-Anteil, die auf einem simplen Baumarkt-Rollwagen hereingeschoben und nach und nach im Raum verteilt, an Körper und Gesichter geschmiert oder in Kloschüsseln entsorgt wird.

Aus dem Raureifschimmel, der am Ende des Films alle Figuren überzieht, wurde weißer Schaum, Badeschaum, der in riesigen Flocken von der Decke fällt, aus einem Loch im Boden als Fontäne emporfliegt und die wie immer fast leere, von Katrin Brack entworfene Gotscheff-Bühne nach wenigen Minuten in eine hüfthohe Badelandschaft verwandelt, in der sich trefflich rutschen, versinken und suhlen lässt. Der Schwerpunkt wurde also ein paar Millimeter von dekadent in Richtung kindisch verschoben. Ansonsten hat Gotscheff das Dialogbuch des Films wortgenau nachsprechen lassen.

Den keineswegs archaischen, dafür immerhin amüsanten Plantschbeckenrest besorgen die Schauspieler, die alle ihre echten Vornamen tragen, mit einem persönlichen Requisit ausgestattet sind und einen lässigen Geist der Improvisation verströmen, der vielleicht nur inszenatorischer Ratlosigkeit geschuldet ist. Milan Peschel, der Meisterkoch, jongliert mit Messern und sorgt mit altbekanntem großäugigen Starren und Henry-Hübchen-Tonfall dafür, dass man weiß, in welchen Haus man sich befindet. Dank Nutella-Fingerfarben gelingt die Verwandlung in Marlon Brando innerhalb von Sekunden. Marc Hosemann jagt mit Kapitänsmütze und Baguette unterm Arm allem hinterher, was zwei Beine hat und verdient für seine gelungene Mastroianni-Kopie das goldene Bugatti-Lenkrad, auch wenn er sich in der Volksbühne mit einem Einkaufswagen als Auto begnügen muss.

Der feinnervige Herbert Fritsch trägt rosa Pullover und Gummihandschuhe, lächelt schief und gefährlich und steht wie immer kurz vor der Einlieferung in die Kinderpsychiatrie. Der Königsclown aber ist Samuel Finzi, der missbrauchte Hausbesitzer und der Einzige, der noch weiß, was Liebe ist. Er macht Almut Zilcher, deren Fürsorge von Gefräßigkeit beängstigenderweise kaum zu unterscheiden ist, einen Heiratsantrag und vergibt ihr sogar tapfer, als auch die anderen mit ihr dürfen.

Herrlich traurig, wie Finzi, aufbrausend doch hoffnungslos überfordert ob der von Marc organisierten Hurerei, einen letzten Rest Anstand wahren möchte und dabei in keiner Sekunde die beiden Orangen aus den Händen gibt, die ihn an die Brüste seiner Amme erinnern. Nach anderthalb Stunden haben die Huren keine Lust mehr und verlassen den Tatort. Nur Almut, die Lehrerin, bleibt. Das wäre der Moment gewesen, in dem die Inszenierung die Abzweigung ins Düstere, quälend Langsame eines Ritual-Selbstmord hätte nehmen können. Gotscheff fährt weiter geradeaus. Das Spektakel bleibt wahnsinnig lustig. Es fehlt nur der Wahnsinn.

Wieder am 5., 13. und 20. Mai

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