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Novemberpogrom 1938: Das Volk als Komplize

„Es brennt!“ – eine Berliner Ausstellung zum Novemberpogrom 1938.

Von der „Reichskristallnacht“ spricht niemand mehr. Denn der schnoddrige Berliner Ausdruck sollte immer schon die Ungeheuerlichkeit verharmlosen, dass mitten in der deutschen Gesellschaft Ladengeschäfte geplündert und Bethäuser in Brand gesteckt, dass 30 000 Mitbürger verhaftet und deportiert wurden, dass mit einem Schlag die Existenz der jüdischen Gemeinden – immerhin 1283 im ganzen Deutschen Reich! – ausgelöscht war. Korrekt ist die Bezeichnung „Novemberpogrom“, doch so recht durchgesetzt hat sie sich nicht; wohl auch, weil zumindest ein Anflug von Scham vorhanden ist, dass all das unter den Augen der Deutschen geschehen ist.

Siebzig Jahre liegt jene Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 nun zurück, da die Nazihorden aus den Bierkellern und Versammlungshallen strömten, wo sie eben noch den Jahrestag des Hitlerputsches 1923 gefeiert hatten, um sich brandschatzend am Eigentum der seit Jahren drangsalierten jüdischen Mitbürger zu vergehen. Der scheinbar „spontane“, tatsächlich gelenkte „Volkszorn“ nach der Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris markiert den Umschlag der Nazi-Politik von der Verfolgung durch Staat und Partei hin zur Komplizenschaft des ganzen Volkes. Fortan wusste jedermann, was den Juden bevorstand, auch wenn die furchtbare „Endlösung“ selbst für Nazigranden noch außerhalb des Denkmöglichen lag. 1938 ging es darum, die jüdischen Mitbürger aus dem Land zu treiben; selbstverständlich unter Zurücklassung allen Besitzes, an dem sich plündernde „Volksgenossen“ gern bedienten.

Zahl der Opfer des Novemberterrors bleibt im Dunkeln

Von heute an zeigt das Centrum Judaicum im Vorraum der neuen Synagoge in der Oranienburger Straße eine kleine, doch inhaltsreiche Ausstellung zum Novemberpogrom unter dem Titel „Es brennt! Antijüdischer Terror im November 1938“. Acht schräg gestellte Info-Stelen gehen der Entwicklung des Naziterrors vom Frühjahr 1938 bis zur Ausweitung der Zerstörung in Lodz im besetzten Polen des Frühjahrs 1940 nach. Eingelassen in die hölzernen Stelen sind schmale Sehschlitze, die den eigentlichen Schatz der Ausstellung bergen: Originalfotografien vom 10. November 1938, von Mitbürgern aufgenommen, oft wackelig, beiläufig, aber ungemein erhellend. Darunter sind sogar frühe Farbfotografien, hier vom Brand der Synagoge in Bielefeld. So sehr der Verlauf dieser Tage bekannt ist, so ratlos steht die Forschung immer noch vor der Frage, ob und in welchem Ausmaß sich die Deutschen an den Terrorhandlungen beteiligten. Die Fotos zeigen, was bei Brand und Aufruhr gemeinhin zu erwarten ist: herbeigeeilte Passanten, die die Scheiterhaufen aus Synagogenmobiliar umstehen oder der Demütigung jüdischer Mitbürger zuschauen; teilnahmslos in beiderlei Richtung, nämlich weder aktiv beteiligt noch auch nur im Geringsten Einhalt bietend.

Der schlimmere Terror vollzog sich ohnehin außerhalb der Öffentlichkeit. Unscheinbar das wohl erschreckendste Bild der Ausstellung: Jüdische Männer werden in Regensburg von uniformierten Nazis gezwungen, im Schlamm zu „exerzieren“. 30 000 jüdische Männer wurden verhaftet und nach Buchenwald und Dachau gebracht, um sie zum fluchtartigen Verlassen des Landes zu veranlassen. Die Zahl der Opfer des Novemberterrors wird wohl für immer im Dunkeln bleiben. Mindestens 100 Tote gab es auf offener Straße, 20 davon allein in Wien, seit dem „Anschluss“ vom März 1938 Teil des „Großdeutschen Reiches“. Von den Verhafteten starben allein in Buchenwald 233 Häftlinge. Entlassen wurde zunächst nur, wer seine bevorstehende Auswanderung nachweisen konnte.

Die Opfer sollten selber für die Schäden zahlen

Die Bildüberlieferung steht im Mittelpunkt der Ausstellung. Fotografieren war am 10. November 1938 offiziell verboten, zumindest in der Reichshauptstadt Berlin, die im Fokus zumal des ausländischen Interesses stand. Wie dieses Verbot durchgesetzt wurde, ist im vorzüglichen Katalog nachzulesen.

Überraschend ratlos reagierten die NS-Spitzen auf das Pogrom, das wohl umfassender ausfiel, als es anfangs beabsichtigt war. Bald überwog die Furcht, die Gewalt nicht mehr kontrollieren zu können. Und das Erschrecken über die wirtschaftlichen Folgen. Am Ende verfielen die Nazis auf die Idee, die Opfer selbst für den Schaden bezahlen zu lassen: 1,126 Milliarden Reichsmark mussten die Jüdischen Gemeinden als „Sühneleistung“ aufbringen, damit die Zerstörungen halbwegs kaschiert werden konnten.

Neue Synagoge, Oranienburger Straße 28/30, bis 1. März 2009. So–Do 10–18, Fr 10–14 Uhr. Katalog 15 €.

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