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Kultur: NS-Verbrechen: Auch der militärische Widerstand wusste von den Vergehen - eine Bestandsaufnahme

Als der Berliner Historiker Christian Gerlach 1995 erstmals die schuldhafte Verwicklung führender Angehöriger des militärischen Widerstands in die verbrecherische deutsche Kriegführung (zumal auf sowjetischem Territorium) während des Zweiten Weltkrieges thematisierte, löste er damit einen Proteststurm aus, der an Heftigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Nicht nur bei den noch lebenden Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer lagen damals die Nerven blank.

Als der Berliner Historiker Christian Gerlach 1995 erstmals die schuldhafte Verwicklung führender Angehöriger des militärischen Widerstands in die verbrecherische deutsche Kriegführung (zumal auf sowjetischem Territorium) während des Zweiten Weltkrieges thematisierte, löste er damit einen Proteststurm aus, der an Heftigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Nicht nur bei den noch lebenden Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer lagen damals die Nerven blank. Auch vor dem Hintergrund der unterschwellig noch immer weiter schwelenden politischen Auseinandersetzung ging es darum, ob nun der konservative oder der "linke" beziehungsweise kommunistische Widerstand als der einzig "wahre" Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu gelten habe. Gerlach wurde einseitige, politisch motivierte Stellungnahme vorgeworfen.

Inzwischen haben sich die Emotionen wieder etwas gelegt. Dass führende militärische Widerstandskämpfer wie etwa Henning von Tresckow, Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff und Georg Freiherr von Boeselager nicht nur von den deutschen Massenverbrechen an der Ostfront wussten, sondern (zumeist über den Umweg mutmaßlicher Partisanenbekämpfung) objektiv auch selbst dazu beigetragen haben, scheint heute zumindest innerhalb der historischen Fachwissenschaft unumstritten zu sein.

Gestritten wird aber um die Bewertung dieses Tatbestandes: War die schuldhafte Verstrickung der genannten Offiziere angesichts einer Situation, in welcher ihr Ausscheiden aus ihren Positionen aber auch nicht das Geringste am Geschehen geändert hätte, von tragischer Unausweichlichkeit? Harrten sie aus, um noch Schlimmeres zu verhüten? Oder trugen sie die deutschen Massenverbrechen im Osten zumindest teilweise aus voller persönlicher Überzeugung mit? Dies sind die Pole des gegenwärtigen Diskussionsstandes. Er manifestiert sich auch in dem hier vorzustellenden Sammelband des publizistisch ganz erstaunlich rührigen Freiburger Militärhistorikers Gerd R. Ueberschär. Auch wenn weiterführende Diskussionsimpulse eher die Ausnahme bleiben, wird eine differenzierte Bestandsaufnahme des aktuellen Standes der Auseinandersetzung geleistet, die als Einstiegslektüre in die Problematik gut geeignet ist.

Antisemitische Tendenzen

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten wird "antisemitischen Einstellungen im Widerstand" nachgespürt: Hanno Loewy, der Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main, problematisiert die öffentliche Rezeption des Widerstands "zwischen Erinnerung und Mythos". Im Zentrum seiner kritischen Betrachtung steht dabei die Ansprache Klaus von Dohnanys zur Eröffnung der Ausstellung "Aufstand des Gewissens" vom Januar 1998, in welcher in teilweise überaus scharfer Form auf Christian Gerlachs oben umrissene Thesen geantwortet wurde. Der Darmstädter Historiker Christof Dipper setzt sich nachdenklich und selbstkritisch mit seinem 1983 veröffentlichten Aufsatz auseinander, in welchem antisemitische Tendenzen innerhalb des deutschen Widerstandes diagnostiziert wurden.

Im zweiten Abschnitt ("Die Konfrontation militärischer Verschwörer mit den NS-Verbrechen im Vernichtungskrieg an der Ostfront") werden die diesbezüglichen Verhältnisse in den ursprünglich drei deutschen Heeresgruppen an der Ostfront skizziert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der in dieser Hinsicht besonders gut erforschten Heeresgruppe Nord. In diesem Abschnitt hat auch Christian Gerlach die Gelegenheit bekommen, im Rahmen seiner Ausführungen zur Heeresgruppe Mitte seinen Kritikern zu antworten. Ihm wiederum entgegnet der Bundeswehr-Militärhistoriker Winfried Heinemann. Es wird dabei deutlich, dass eine unterschiedliche Einschätzung der objektiven Realität des Partisanenkrieges zu sehr unterschiedlichen Bewertungen der in diesem Zusammenhang auch von militärischen Widerstandskämpfern zu verantwortenden Maßnahmen führt.

Im dritten Abschnitt versuchen Manfred Messerschmidt und Hans Mommsen die Motive für den militärischen Widerstand gegen Hitler zu gewichten. Beide sind sich darin einig, dass der verbrecherischen deutschen Kriegführung im Osten in diesem Rahmen nur eine nachgeordnete Bedeutung zukam. Der vierte Abschnitt präsentiert auf 70 Seiten ausgewählte Dokumente zur Thematik. Die Auswahl der Quellen leuchtet unter der Maßgabe ein, dass der Band als Veröffentlichung in sich völlig abgeschlossen sein sollte.

Insgesamt unterstreicht der Band die Brisanz jener "Gretchenfrage" der deutschen Widerstandsgeschichte, die der amerikanische Historiker Theodore S. Hamerow jüngst in äußerster Zuspitzung so auf den Punkt gebracht hat: "Hätten die Widerständler ebenso bereitwillig ihr Leben riskiert, um das Nazi-Regime zu stürzen, wenn dieses trotz aller Unterdrückung und Brutalität weiterhin militärisch siegreich geblieben wäre? Hätten sie im Namen einer übergeordneten oder universalen Menschlichkeit wirklich die Sicherheit ihres Vaterlandes gefährdet?"

Diese unbequeme Frage ist mit den Mitteln des Historikers schwerlich zu beantworten. Schon gar nicht in dieser Allgemeingültigkeit. Und doch wird sich in Zukunft jede Untersuchung zur Geschichte des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus mit ihr auseinanderzusetzen haben - jenseits von Ehrabschneidungen, aber auch jenseits von historisch fragwürdiger Monumentalisierung.

Enrico Syring

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