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Selin Kavak im Stück "NSU-Monologe"

© Scokofeh Kamiz

"NSU-Monologe" im Heimathafen: Mit jedem Wort werde ich sechs Monate älter

Die „NSU-Monologe“ erinnern im Heimathafen an die Opfer der Terrorzelle und ihre Angehörigen. Das Stück gibt denen eine Stimme, denen Unrecht widerfahren ist.

„Jedes Mal, wenn ich meine Geschichte erzähle“, sagt Ismael Yozgat, „fühlt es sich an, als würde ich mit jedem Wort sechs Monate altern.“ Nur zu verständlich. Schließlich handelt diese Geschichte von der Ermordung seines 21-jährigen Sohnes Halit. Der wurde mit zwei Kopfschüssen getötet. Und zwar von den Neonazis des sogenannten NSU. Das ist auch der Grund, weshalb Yozgat es in Kauf nimmt, den Schmerz über den unfasslichen Verlust immer wieder zu durchleben. Weil dieser NSU-Komplex ein noch lange nicht aufgearbeiteter Skandal ist, eine Schande für Deutschland.

Die Aussagen und Erzählungen von Ismael Yozgat sind eine der Grundlagen für das Stück „Die NSU-Monologe“, das jetzt am Heimathafen Neukölln Premiere feierte. Zudem hat der Autor und Regisseur Michael Ruf zusammen mit seinem Team der „Bühne für Menschenrechte“ ganztätige Interviews mit zwei weiteren Hinterbliebenen der NSU-Morde geführt, mit Adile Simsek und Elif Kubasik. Auch auf den bearbeiteten Transkripten dieser Gespräche fußt der Abend, der noch einmal das Bewusstsein schärfen will für die Schicksale hinter den Schlagzeilen. Es gibt ihn in einer deutschen und einer türkischen Fassung, jeweils mit Übertiteln.

„Wortgetreues Theater“ nennen Ruf und seine Mitstreiter ihr Arbeitsprinzip, das sie zuletzt in den Stücken „Die Asyl-Monologe“ und „Die Asyl-Dialoge“ erprobt haben. Dafür lauschen sie Betroffenen und lassen die gewonnenen Erzählungen in gekürzter, aber inhaltlich unveränderter Form von Schauspielerinnen und Schauspielern vortragen. Ein durchaus ehrenwertes Vorgehen. Gegenwärtig ist es im dokumentarischen Theater zwar verbreiteter, „echte Menschen“ als Darsteller der eigenen Biografie auftreten zu lassen, zum Beispiel Geflüchteten mit ihren Geschichten die Bühne zu öffnen. Was Deutungshoheit über die Erlebnisse und somit Autonomie verspricht.

Einblicke in die Leben, die der NSU zerstört hat

Das Ensemble aus Selin Kavak, Asad Schwarz-Msesilamba, Elisabeth Pleß und Meri Koivisto gewährt – stets frontal zum Publikum sprechend – Einblicke in die Leben, die der NSU zerstört hat. Die der Ermordeten wie der Hinterbliebenen. Man erfährt etwa, wie da noch in der Türkei Liebesehen gegen familiäre Widerstände geschlossen wurden, wie die Eheleute sich später in Deutschland eine Existenz aufgebaut haben und wie sie unversehens zu Fremden im eigenen Land wurden. Weil mit den Morden auch die falschen Verdächtigungen kamen. „Ob in der ,Hürriyet‘ oder einer deutschen Zeitung, jeden Tag las ich: mal Mafia, mal Geldschmuggel.“

Es gab bereits einige Auseinandersetzungen mit dem NSU an dem Theater. Nuran David Calis hat für „Die Lücke“ unter Anwohnern und Geschäftsleuten der Keupstraße in Köln-Mühlheim recherchiert, die dort das Nagelbombenattentat der Neonazi-Bande überlebt haben. Christine Umpfenbach spürte in ihrer Recherche-Inszenierung „Urteile“ den Morden an Habil Kilic und Theodoros Boulgarides in München nach. Und Theatermacher Tugsal Mogul unternahm mit seinem Stück „Auch Deutsche unter den Opfern“ einen Gewaltritt durch die Faktenflut, vor allem die haarsträubenden Ungereimtheiten des NSU-Komplexes.

„Die NSU-Monologe“ fügen dem keine neuen Aspekte hinzu, aber das müssen sie auch nicht. Das Stück gibt denen eine Stimme, denen Unrecht widerfahren ist. Und die bis dato vergebens auf Gerechtigkeit hoffen.

Nächste Vorstellungen: 15. bis 19. November, 19. 30 Uhr, Heimathafen Neukölln.

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