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Einer muss es richten. Ein heliumgefüllter Superman schwebt über dem New Yorker Times Square (1940). Foto: ddp images/AP

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Kultur: Nur eine Weltdemokratie kann uns retten

Mit Humanismus und ökonomischer Vernunft durch die Krise: Wie Thomas Mann 1940 ein transatlantisches Konzil einberief

Die Verschuldung der Staatshaushalte führt in den Ländern Europas zur Gefahr des Staatsbankrotts, zur Infragestellung der gemeinsamen Währung. In den USA droht sie die gesamte politische Maschinerie und die föderale Verwaltung zu lähmen. Auf beiden Seiten des Atlantiks verhindern Zinszahlungen das Wirtschaftswachstum, das die Voraussetzung für einen Abbau der astronomischen Verschuldung wäre. Die Länder des transatlantischen Westens sitzen, was ihre Budgetdefizite betrifft, im gleichen Boot. Wird kein Weg aus der Krise gefunden, droht dem nordatlantischen Teil der Welt – über Jahrhunderte die Lokomotive der Weltwirtschaft – eine Verarmung. Dabei müsste man auch politische Rückschläge hinnehmen, denn von sozialen Katastrophen profitieren vor allem antidemokratische Gruppen. Das wäre schon deshalb fatal, weil die demokratischen Bewegungen im Nahen Osten und Nordafrika die Unterstützung funktionierender westlicher Staaten benötigen.

Wo bleiben in dieser Situation die Intellektuellen? Es fehlt nicht an Talkshows und Symposien, in denen sich die Erinnerer und Prognostiker, Analytiker und Warner versammeln. Aber da steht Ansicht gegen Ansicht, Einsicht gegen Einsicht und zuweilen Dummheit gegen Dummheit. Wichtiger wäre, dass weder von Medien noch von Parteien vereinnahmte Intellektuelle sich gemeinsam den zentralen Fragen von Wirtschaft und Politik widmen und sie im Geist der Demokratie und des sozialen Gemeinwohls angehen.

Vor gut sieben Jahrzehnten, im Jahr 1940, gab es einen Fall, den man sich zum Vorbild nehmen könnte. Damals entwickelten amerikanische und emigrierte europäische Intellektuelle Perspektiven für eine globale Demokratisierung. Das war mitten in einer der größten weltpolitischen Krisen des 20. Jahrhunderts.

Thomas Mann, seit Herbst 1938 im Princetoner Exil, war der spiritus rector des Unternehmens. Mit seinem Prestige als Nobelpreisträger und seinen Kontakten, die bis ins Weiße Haus reichten, gelang es ihm, hervorragende Köpfe zu einer Art Intellektuellen-Konzil zu versammeln. Man entwarf ein Buch, in dem politische, ökonomische, juristische, edukatorische und theologische Argumente versammelt sein sollten, die man Nationalsozialismus, Faschismus und Bolschewismus (es war die Zeit des Hitler-Stalin-Pakts) entgegensetzen konnte. Gleichzeitig wollte man die Bevölkerung der USA von der Notwendigkeit eines Krieges gegen Nazi-Deutschland überzeugen. Roosevelt, so war man sicher, würde Hitler besiegen – nicht nur militärisch, sondern, als Präsident der mächtigsten Demokratie der Welt, im Sinne eines Kampfes zwischen Humanität und Barbarei.

Thomas Mann gewann 16 Intellektuelle, wobei ihm der italienische Exilant Giuseppe Antonio Borgese, der künftige Gatte von Manns jüngster Tochter Elisabeth, eine unerlässliche Hilfe war. Entstehen sollte eine Gemeinschaftspublikation aus einem Guss. Auf amerikanischer Seite fand Thomas Mann elf Männer und Frauen, dazu fünf prominente europäische Exilanten. Der Publizist und Historiker Herbert Agar hatte 1934 für sein Buch „The People’s Choice: A Critical Look of the American Presidency“ den Pulitzer-Preis erhalten. Es wurde ein Lieblingsbuch von John F. Kennedy. Frank Aydelotte war Anglist und Erziehungswissenschaftler, Präsident des Swarthmore College und später des Institute for Advanced Study in Princeton, Van Wyck Brooks Literaturkritiker und Historiker. Für seine Buchserie „Makers and Finders“ hatte er ebenfalls den Pulitzer-Preis bekommen.

Ada Louise Comstock setzte 1943 als Präsidentin der American Association of University Women durch, dass an der Harvard University auch Frauen studieren dürfen. William Yandell Elliott war dort Historiker und politischer Berater von sechs amerikanischen Präsidenten – sowohl demokratischen wie republikanischen. Er gehörte zum brain trust Präsident Roosevelts. Dorothy Canfield Fisher brachte die Montessori-Erziehung in die USA, war eine Pionierin der Erwachsenenbildung, sprach fünf Sprachen und publizierte viel gelesene autobiografische Romane. Christian Gauss war Literaturwissenschaftler und Dekan in Princeton.

Alvin Johnson, von Haus aus Wirtschaftswissenschaftler, machte sich als Gründer der New School for Social Research einen Namen, an der er die University in Exile schuf, die für Dutzende von Intellektuellen, die vor Hitler geflohen waren, Stellen einrichtete, unter anderem für Hannah Arendt. Lewis Mumford, ursprünglich Literaturkritiker und Historiker, entwickelte sich nicht zuletzt durch die Freundschaft mit Frank Lloyd Wright zu einem weitsichtigen Städteplaner und Architekturtheoretiker. William Allan Neilson, ein Shakespeare-Spezialist, war Präsident des Smith College. Reinhold Niebuhr entstammte einem deutsch-amerikanischen Pfarrhaus. Seit 1928 lehrte er am Union Theological Seminary der New York University.

Unter den Emigranten waren Antonio Giuseppe Borgese und Hermann Broch die Engagiertesten. Borgese, ein italienischer Literaturkritiker, Historiker und Schriftsteller, gehörte, als Mussolini von seinen Professoren den faschistischen Eid verlangte, unter 2000 Kollegen zu den 13, die den Schwur verweigerten. 1931 floh er in die USA, wo er an der University of Chicago eine Professur für Politische Wissenschaft erhielt. 1937 hatte er sein Buch „The March of Fascism“ publiziert, eine der klarsichtigsten Analysen des Mussolini-Regimes. Er wurde Sekretär des „Committee to Frame a World Constitution“, 1947 veröffentlichte er den „Entwurf einer Weltverfassung“.

Hermann Broch war ein Romancier („Die Schlafwandler“), der einer jüdischen Wiener Familie entstammte. Schon vor der Flucht in die USA 1938 hatte er mit seiner „Völkerbund-Resolution“ eine Streitschrift für die Beachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde verfasst. Damals arbeitete Broch an seiner „Massenwahntheorie“. Der ungarisch-jüdische Historiker Oscar Jászi war als junger Mann Zionist. 1925 emigrierte er in die USA, wo er am Oberlin College unterrichtete und mit „The Dissolution of the Habsburg Monarchy“ auf sich aufmerksam machte. Auch der in Prag aufgewachsene Hans Kohn war Zionist, verbrachte einige Jahre in Palästina und wanderte 1934 in die USA aus, wo er am Smith College Politische Wissenschaft lehrte. Bekannt wurde er als Historiker des Panslawismus. Gaetano Salvemini schließlich, ursprünglich Publizist, Historiker und Parlamentarier, litt unter den Pressionen Mussolinis. 1925 verhaftet, schloss er sich in Paris einer Widerstandsgruppe an. 1934 ging er ins Exil und bekam in Harvard eine Professur für italienische Geschichte.

Diese Gruppe traf sich zu zwei Arbeitstagungen vom 24. bis 26. Mai 1940 in Atlantic City (New Jersey) und vom 24. bis 25. August 1940 in Sharon (Connecticut). Den Sitzungen gingen Einladungen mit genauen Arbeitsplänen voraus, ihnen folgten briefliche und telefonische Abstimmungen. Im November 1940 erschien das Ergebnis, „The City of Man. A Declaration on World Democracy“, bei der Viking Press. Noch in Atlantic City erfuhr man, dass Hitler den Frankreichfeldzug gewonnen hatte. Wie Thomas Manns Tagebuch zu entnehmen ist, drohte der Autor in Depression zu verfallen, aber die Gruppe wurde noch stärker motiviert.

Was sind die Forderungen der „City of Man“? Die USA, heißt es, müssten mit ihrer demokratischen Staatsform eine humane Alternative zum Terror Hitlers bieten. Wie jene Europas befinde sich aber auch die Demokratie Amerikas in einer tiefen Krise, und nur eine erneuerte Demokratie sei in der Lage, dem Totalitarismus entgegenzutreten. Amerika solle sich für folgende Ziele einsetzen: Im Gegensatz zur Kriegsverherrlichung der Nazis sei das Postulat des universalen Friedens zu verteidigen. „Die Demokratie lehrt“, heißt es, „dass alles durch, nichts gegen und nichts außerhalb der Menschlichkeit zu geschehen hat. Die Diktatur der Humanität auf der Basis des Gesetzes zum Schutz der Menschenwürde ist die einzige Herrschaft, von der die Hoffnung für unser eigenes Leben ausgeht und von der die Wiedererstehung jener Nationen zu erwarten ist, die sich an der Humanität vergingen.“

Die Aufgabe der USA bestehe darin, die Welt für eine neue Ordnung zu gewinnen. Freilich könne das jetzige Amerika diese Rolle noch nicht übernehmen. Zu den „Fehlern, welche die Erfüllung ihrer Aufgaben gefährden“, werden gezählt: „die geringgeschätzte Bildung, die korrupte Politik und die öde Effizienz der Spekulanten“. Amerika müsse sich besinnen: „Die amerikanische Verfassung muss Wirklichkeit werden.“ In diesem Zusammenhang wird postuliert: Erstens müssten in einer Verfassungsreform die Rechte und Pflichten des Einzelnen dem Staate und des Staates dem Einzelnen gegenüber genauer formuliert werden. Zweitens sei die Trennung von Kirche und Staat klarer herauszustellen. Drittens seien Wirtschaftsreformen anzustreben, welche die Ansätze des New Deal weiterführen. Viertens sei ein internationales Gesetzbuch auszuarbeiten. Nach diesen Reformen könne, sobald Hitler besiegt sei, auch das Projekt einer Weltdemokratie mit einer Weltverfassung angestrebt werden. Das war ein Lieblingsgedanke Borgeses.

Die Wirkung einzelner Bücher ist schwer einzuschätzen. Jedenfalls leistete das Intellektuellen-Konzil etwas, dem man Realitätstüchtigkeit nicht absprechen kann: Es trug dazu bei, in der amerikanischen Öffentlichkeit eine Bereitschaft zu schaffen, militärisch gegen Hitler vorzugehen und nach dem Krieg die demokratische Staatsform im europäischen Einflussbereich der USA durchzusetzen. Mit seinen universalistischen Perspektiven wurde bereits fünf Jahre vor der Etablierung der Vereinten Nationen und acht Jahre vor der Verkündung der Internationalen Menschenrechte die globale Durchsetzung demokratischer Grundsätze ins Auge gefasst. Es war eine Pionierarbeit. Thomas Manns Beispiel sollte in der heutigen Krise Schule machen.

Der Autor ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Washington University in St. Louis, Missouri, und beschäftigt sich regelmäßig mit dem Europadiskurs der Schriftsteller.

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