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Sinan (Doğu Demirkol) versteht Hatice (Hazar Ergüçlü) nicht, die sich für ein Leben in der Provinz entschieden hat.

© Kinostar

Nuri Bilge Ceylans „The Wild Pear Tree“ im Kino: Aufstand gegen das absurde Leben

Nuri Bilge Ceylans Familiendrama „Wild Pear Tree“ entwirft wortreich ein süffisant-skeptisches Bild der modernen Türkei.

Von Andreas Busche

Die Arroganz der Jugend kann eine Bürde sein. Vor allem nervt sie schnell, nicht nur die Älteren. Sinan (Doğu Demirkol) hat gerade seinen Uni-Abschluss in der Tasche, als er an seinen Heimatort zurückkehrt, die Kleinstadt Çan in der westtürkischen Provinz Çanakkale. Hier scheint die Zeit stehengeblieben, sehr zu seinem Missfallen.

Vater Idris (Murat Cemcir), ein Grundschullehrer, war mal ein angesehener Mann im Ort, jetzt wird Sinan bei seiner Ankunft am Busbahnhof mit dessen Spielschulden konfrontiert. Seine Mutter Asuman (Bennu Yıldırımlar) und die jüngere Schwester Yasemin (Asena Keskinci) haben sich resigniert ins Private zurückgezogen.

Im Wohnzimmer läuft ständig der Fernseher, eine Kakophonie aus Soap Operas und Propagandanachrichten. „Er befindet sich in einem ständigen Aufstand gegen die Absurdität des Lebens“, meint Sinan achselzuckend über den Vater.

So richtig irritiert sein passiv-aggressives Verhalten aber erst außerhalb der Familie. Der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan hat das dreistündige Familienporträt „The Wild Pear Tree“ als eine Reihe von länglichen, raffiniert geschriebenen Alltagsbegegnungen angelegt, in der sich der driftende Sinan zunehmend als tragikomische Figur entpuppt.

Protagonist Sinan treibt alle in den Wahnsinn

Seine Verachtung für den Vater macht ihn unempfänglich für die Tatsache, dass er sich bereits in den Fußstapfen seines alten Herrn bewegt. Und das nicht nur, weil er ebenfalls Lehrer werden will.

Die beste Reaktion erntet Sinan vom lokalen Literaturstar Süleyman (Serkan Keskin), den er eigentlich nur um Rat bitten möchte; Sinan hat nämlich auch literarische Ambitionen, er arbeitet an einem Buch, aber natürlich keinen bloßen Roman, sondern einen „schrägen, autofiktionalen Metaroman“.

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Er treibt den Schriftsteller mit seiner dreisten Besserwisserei und Überheblichkeit – sowie abfälligen Bemerkungen über die türkische Literatur – an den Rand des Wahnsinns. Eigentlich sucht Sinan keinen Rat, nur Bestätigung.

„Ich höre seit einer halben Stunde nur eine Realität“, meint Süleyman irgendwann mit erzwungener Contenance. „Der drückende Schmerz in meinen Beinen und das Ziehen im Nacken warten nur darauf, sich in eine Killermigräne zu verwandeln.“ Als Sinan die wenig subtilen Signale weiter ignoriert, platzt dem alten Mann vor dem malerischen Panorama des antiken Flusses Granikos der Kragen.

Es reden fast ausschließlich Männer

Diese Renitenz folgt durchaus einem Konzept, das Ceylans Film stellenweise allerdings zu einer ziemlich frustrierenden Erfahrung macht. „The Wild Pear Tree“ (so der Titel von Sinans geplantem Debütroman) besitzt eine geradezu hermetische Binnensicht, denn es reden fast ausschließlich Männer.

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Dass diesmal – im Gegensatz zu Ceylans letztem Film, dem Palmen-Gewinner „Winterreise“ von 2014 – die junge Generation zu Wort kommt und kein verbitterter alter Mann, könnte man immerhin wohlwollend als Kommentar des Regisseurs zur Türkei der Gegenwart (oder gar ihrer Zukunft?) verstehen.

Eine schöne Gelegenheit verschenkt Ceylan, gemeinsam mit seiner Frau Ebru auch Ko-Autor, früh. Sinans Begegnung mit Hatice (Hazar Ergüçlü) öffnet eine Vielzahl erzählerischer Pfade aus der engen Weltsicht seines seltsamen Antihelden heraus. Er trifft die junge Frau, eine Jugendliebe, wie sich im ironisch-distanzierten Gespräch herausstellt, bei der Ernte im Feld; er erkennt sie zunächst nicht, weil sie einen Schleier trägt.

Gökhan Tiryaki taucht die Landschaft in goldenes Licht

Schnell schleifen sich Muster ein, die sich später wiederholen: Hatices Miene verfinstert sich nach einigen abfälligen Bemerkungen Sinans über ihr traditionelles Denken – das muss man auch erst mal schaffen in diesem goldenen Licht, in das Kameramann Gökhan Tiryaki die Landschaft taucht.

Trotzdem entsteht zwischen den beiden ein magischer Moment: Wind rauscht in den Bäumen, kurz liegt die Möglichkeit einer Romanze in Luft. Doch statt Sinan zu küssen, beißt Hatice ihm die Lippe blutig – und entzieht sich seinen Avancen elegant.

Diese Widerständigkeit gegen Rollenmodelle bringt „The Wild Pear Tree“ zu selten auf. Ceylan verlässt sich vielmehr darauf, dass sich die Männer in ihren Monologen selbst entlarven. Etwa der Bürgermeister, der lieber einen Tourismusführer über die Region fördern würde. (Troja ist nur eine Autostunde entfernt.)

Oder der Industrielle, auch ein lokaler Kulturmäzen, der Sinan abwimmelt: „Bildung ist schön und gut. Aber das hier ist die Türkei.“ Ceylan wird oft seine unpolitische Haltung vorgeworfen. Aber in den endlosen, kunstvoll elaborierten Wortkaskaden finden sich auch einige böse Spitzen gegen sein Land.
Ab Donnerstag im Kino FSK (OmU)

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