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Kultur: „Nutzt die Liebesenergien!“

Die Regisseurin Vera Nemirova über Kindheit in Bulgarien, Thielemann und Puccini

Frau Nemirova, Sie inszenieren Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“ an der Deutschen Oper Berlin. Verdis „Macbeth“ ließen sie im alten Bundestag in Bonn spielen, Kalmans „Gräfin Mariza“ in einer schäbigen osteuropäischen Dorfbar. Wohin entführen Sie uns nun?

Wir fahren alle zusammen nach Amerika, wir wandern alle aus. Das Foyer wird ein Schiff sein, und mit der Ouvertüre setzen wir über. Man macht sich große Illusionen, da es ja ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten geht. Aber wenn das Stück beginnt, kommt die Desillusionierung.

Giacomo Puccinis Oper gilt ja als einziger legitimer Opern-Western.

Aber es ist vor allem ein Emigrantenstück, eine Geschichte, die uns alle angeht: Es muss ja nicht Amerika sein. Wer kann es sich heutzutage noch leisten, territorial gebunden zu leben und zu arbeiten? Man muss doch vielmehr lernen, Beziehungen zu Menschen aufgeben, zur Familie vielleicht sogar.

Um Heimat ging es auch in „Gräfin Mariza“.

Bei Kalman hat mich der Blick derer interessiert, die nicht weggekommen sind, die Vergessenen in der „hintersten Walachei“, die Bulgaren, Serben, Rumänen, für die „Wien, Wien nur du allein“ unerreichbares Ziel ihrer Wünsche und Träume ist. Im „Mädchen aus dem goldenen Westen“ ist es die Geschichte derer, die es geschafft haben, wegzugehen. Nur: Wo sind die hingeraten?

Sie selbst haben Ihre Heimat Bulgarien schon mit neun Jahren verlassen. Erinnern Sie sich noch an Ihre Kindheit?

Ich stamme aus einer Künstlerfamilie in der dritten oder vierten Generation. Mein Vater war Opernregisseur, Schriftsteller und Entdecker von Stücken – unter anderem auch vom „Mädchen“. Ein Foto von ihm trage ich immer in meiner Brieftasche. Er ist leider schon sehr früh gestorben, aber ich habe von ihm die ersten Schritte gezeigt bekommen, habe ein Papiertheater gebastelt und darin die ersten Stücke gespielt, große Dinge natürlich: „Troubadour“, „Tosca“ ...

Das Theater selbst als Heimat?

In gewisser Weise, ja. Während die Wohnorte und Schulen wechselten, blieb die Theaterwelt immer dieselbe. Für mich war das der Ort, an dem ich immer auf meine Mutter warten musste. Sie ist Sängerin und wurde nach dem Tod meines Vater zunächst nach Rostock engagiert.

Von Sofia nach Rostock.

Es war ein absoluter Einschnitt. Die Kindheit in Bulgarien war wild und frei. Ich war immer draußen, und wir haben immer Theater gespielt: „Krieg“ oder „Erfrierungszustände bei 30 Grad Hitze“ oder „Tod eines Elternteils“. Hier in Deutschland war alles viel introvertierter, schon nachmittags war niemand mehr auf der Straße. In der vierten Klasse saß ich also da und verstand nichts.

Fahren Sie heute noch nach Bulgarien?

Ja, jeden Sommer, mindestens drei Wochen. Das ist für mich nach wie vor ein Zustand zwischen zwei Klima- und Seinszonen. Ich gebe meine hiesige Identität auf, ich ziehe sie aus wie einen Mantel. Wenn man mit zehn weggeht, dann verlässt man das Land noch in diesem Kindheitszustand, und dann findet man, wenn man zurückkommt, seinen Kinderkörper wieder. Das ist ein ganz komischer Effekt.

War 1989 für Sie ein weiterer Heimatverlust? Schließlich hatten Sie acht Jahre DDR erlebt.

Der Wechsel der Systeme ist wie ein Einbruch gekommen. Ich war damals gerade in der Abiturstufe, einerseits standen Prüfungen bevor, andererseits wurden Inhalte über Bord geworfen und Überzeugungen abgelegt. Das alles haben wir als Jugendliche mitbekommen, in einer Zeit, in der man ohnehin sehr wach ist, und sich der ganze geistige Hintergrund langsam herausbildet. Plötzlich erlebt man so etwas.

Ihre Lehrer – Ruth Berghaus, Peter Konwitschny oder Heiner Müller – haben das gegenwärtige Musiktheater nachhaltig verändert.

Ohne diese Leute gäbe es uns gar nicht. Berghaus, Konwitschny: Die hatten einen ganz starken Willen. Es ging immer um Wahrheiten, unsere Existenz und unseren Beruf betreffend, und nicht darum, einen Stil zu prägen oder etwas glanzvoll zu verkaufen.

Dem Theater wird im Allgemeinen ein Endzustand diagnostiziert – und trotzdem sind Ihre Inszenierungen immer große Feste, bei denen viel Personal, meist der gesamte Theaterapparat zu sehen ist.

Jede Aufführung muss ein Zeichen setzen gegen das Theatersterben. Theater ist etwas Sinnliches. Es sind viele Menschen mit ihrer Liebesenergie, die in die Stücke einfließt, daran beteiligt. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder es wird atmosphärisch toll oder sehr aggressiv, weil die Vorstellungen der Beteiligten konträr sind und man an unterschiedlichen Fronten kämpft. Aber im Theater ist nie etwas dazwischen, so halb gewalkt.

Und was sagt der Dirigent der Produktion, Christian Thielemann, dazu?

Die Klischees über Thielemann kann man vergessen. Er ist ein offener, mit einer Wahnsinnsenergie geladener Mensch, der die Partitur ungeheuer ernst nimmt, aber auch in seiner Art ein begeisterungsfähiger ausgelassener Junge. Das gefällt mir sehr.

Identifizieren Sie sich eigentlich mit Minnie, der weiblichen Hauptpartie, bei Puccini die einzige Frau unter 75 Goldgräbern?

Das Ensemble begrüßt mich mit „Hallo Minnie“, was mich natürlich ungeheuer anrührt. Die Opernfigur Minnie ist eine Puccini-Heldin wie sonst keine, sie ist eigentlich ein Kerl. Sie kann mit der Pistole umgehen, aber sie ist eben auch etwas bieder und sehnt sich nach dem kleinen privaten Glück.

Ihr Terminkalender ist voll bis 2006, wenn Sie an der Semperoper Carl Maria von Webers „Euryanthe“ inszenieren. Ängstigt Sie das?

Eigentlich wollte ich mir einmal eine Auszeit gönnen, um ein bisschen Lebenserfahrung zu sammeln. Ich wollte mal für drei Monate nach Italien, um Italienisch zu lernen, weil ich merke, dass mir diese Sprache unheimlich fehlt. Viele Dinge, die jemand wie Peter Konwitschny erst mit fünfzig gemacht hat, muss ich heute mit dreißig machen. In dieser Gesellschaft hat eben derjenige einen Marktwert, der jung ist und produziert. Das ist furchtbar, aber für mich natürlich auch eine Chance!

Das Gespräch führte Bernhard Doppler.

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