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Christopher Maltman als "Ödipus" bei den Salzburger Festspielen 2019.

© picture alliance/dpa/APA

"Ödipus" als Jugend-Sachbuch: Die allerschlimmste Geschichte

Er bringt den Vater um, heiratete seine Mutter und hat mir ihr zwei Kinder: Ödipus wird zum Opfer seiner Unwissenheit. Ein Jugendbuch erzählt den Mythos neu.

Sagen und Mythen werden immer wieder neu erzählt, das liegt in ihrer Natur. Das macht sie in gewisser Weise unsterblich. Oft aber werden diese alten Geschichten, deren Herkunft im Dunkeln liegt, für Kinder vereinfacht und verharmlost. Denn das Mythologische steckt voller Gewalt und Schrecken.

Die Geschichte von Ödipus lässt sich nicht abschwächen. Er bringt seinen Vater um, er heiratet seine Mutter und hat mir ihr zwei Kinder. Denn er weiß nicht, wer er wirklich ist. Er muss einen Spruch des Orakels von Delphi erfüllen. In seinem Bilderbuch „Ödipus, das Findelkind“ versucht der französische Zeichner Yvan Pommaux gar nicht erst, etwas aus dem verfluchten Haus des Ödipus zu verschweigen. Die Neugier seiner jungen Leserinnen und Leser wird zugleich bestraft und belohnt.

Warum Sagen immer schlecht ausgehen

Und dafür hat sich Pommaux einen feinen Trick ausgedacht, eine kleine Rahmenhandlung. Zwei Kinder fragen ihren Großvater, warum die griechischen Sagen „immer schlecht ausgehen:“ Und ob er ihnen die „allerschrecklichste, allerfurchtbarste“ von allen Geschichten erzählen könne. Darüber kann man streiten, aber was Ödipus erlebt, was er tut, ohne die Wahrheit zu ahnen, gehört ganz sicher zum Härtesten, was die Mythologie der Griechen zu bieten hat. Weil sein Vater, der König Laios, die Weissagung bekommt, dass sein Sohn ihn einst töten und seine Mutter zur Frau nehmen wird, wird das Baby auf einem Berg ausgesetzt. Dort gibt es wilde Tiere, aber ein Schafhirte rettet den Kleinen. Er wächst bei einem fremden König auf – und flieht entsetzt, als auch ihm der Vatermord und die Ehe mit der Mutter prophezeit wird. So macht er sich auf den verhängnisvollen Weg zu seinen leiblichen Eltern, ohne es zu wissen. Er läuft in die Falle, der er entkommen will.

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Yvan Pommaux findet einfache, klare Worte für diese Geschichte, die einen immer wieder packt, auch wenn man sie schon oft gehört oder im Theater gesehen hat. Das Meer, die Zypressen, die Hügel zeigen ein Griechenland, das man auch heute noch erkennt. Auf einer kleinen Landkarte kann man die Wanderung des Ödipus verfolgen: Korinth, wo er aufwächst, das Orakel in Delphi und sein Geburtsort Theben, wo sich die furchtbare Geschichte vollendet, liegen nicht weit auseinander. Besonders eindrucksvoll ist Pommaux die Sphinx gelungen, das Ungeheuer, dessen Rätselspruch für Ödipus kein Problem darstellt. Schön zu sehen, wie das alte Griechenland von der ägyptischen Kultur beeinflusst war; denn dort war die Sphinx ursprünglich zu Hause.

Eigentlich hat er nichts Böses getan

Elegant löst Pommaux die Frage der „widernatürlichen Ehe“. Ödipus also „sieht etwas älter aus als er ist“, seine Mutter Iokaste „wirkt noch erstaunlich jung“. Die Mädchen wurden damals sehr jung verheiratet. Für die Auflösung der Tragödie nimmt sich das Buch viel Zeit. Es kommt zu vielen schmerzhaften Gesprächen und Befragungen, aus denen sich diese Familiengeschichte langsam herausschält. „Was hat er Böses getan? Nichts. Er war nichts als das Opfer eines grausamen Spiels, erdacht von den Göttern des Olymp.“

[Yvan Pommaux; Ödipus das Findelkind. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Moritz Verlag, Frankfurt am main, 2021. 48 Seiten, 18 €]

Auch so kann man olympische Spiele aufführen – Menschen werden von Göttern ins Verderben geschickt. Pommaux’ Bildschnitt steigert die Spannung, die bekannte Geschichte verfehlt auch hier nicht ihre Wirkung. Sie erschüttert den älteren Leser noch im Kinderbuch und findet einen Schluss, der etwas Licht und Frieden bringt, ohne das Drama zu verdrehen. Im zweiseitigen Anhang gibt es zur Orientierung Erklärungen zu Namen, Städten und Heiligtümern in Griechenland, die heute noch zu besuchen sind: ein gutes Buch für die Urlaubsreise.

Antigones Geschichte ist noch schlimmer

Am Ende sind die Kinder schockiert: „Großvater, diese Geschichte ist wirklich schrecklich!“ Sie wollen wissen, ob die Geschichte von Antigone vielleicht lustiger ist. Darauf gibt der Erzähler eine schlaue Antwort, eines Orakels würdig: Er habe die Kinder gewarnt vor Ödipus, sie wollten es ja unbedingt wissen. Und was Antigone betrifft, nun, er glaube, ihre Geschichte sei noch schlimmer ... Ein echter Cliffhanger. Und ein Hinweis, woran dieser großartige Autor wohl als nächstes arbeitet. Rüdiger Schaper

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