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Maximale Entrückung. Ursina Lardi (3. v. r.) als Ödipus.

© DAVIDS/Dominique Ecken

„Ödipus der Tyrann“ an der Schaubühne: Der König zieht ins Kloster

Romeo Castellucci inszeniert „Ödipus der Tyrann“ an der Schaubühne. Die Hauptrolle spielt Ursina Lardi.

Gediegene Geschäftigkeit herrscht im Karmelitinnenkloster an der Berliner Schaubühne. Im kunstvoll gedämpften Licht schreiten opulente Nonnenformationen von links nach rechts und zurück. Wir sehen: Karmelitinnen beim Gebet, beim Essen, bei der Klostergartenpflege. Liturgische Gesänge erfüllen den Schaubühnen-Saal, Weihrauchschwaden wabern ins Parkett, der eine oder andere Zuschauer beginnt leise zu kichern.

Das Intro der klösterlichen Alltagsrituale, das der italienische Regisseur Romeo Castellucci seiner „Ödipus“-Tragödie in der Übersetzung Friedrich Hölderlins voranstellt, dauert eine knappe halbe Stunde. Und selbstredend fällt darin kein einziges Wort. Die raren Äußerungen, die den Schwestern hinterm Gazevorhang entfahren, sind unfreiwilliger körperlicher Natur: Wiederholt hustet sich eine Nonne beim Essen an die Todesgrenze oder wirft den Kopf unter fiebrigen Nahtodträumen im Krankenbett hin und her. Kreatürliche Akte, denen die kontrollierten Kolleginnen mit engagiertem Überspielungsaktionismus begegnen.

Die Besetzung des thebanischen Herrscherclans ist ausschließlich weiblich

Bis die Klostervorsteherin, gespielt von Angela Winkler, unter ihrem Kopfkissen ein Buch findet: Die höchst kreatürliche Vatermord- und Inzestgeschichte des alten Königs von Theben! La Winkler beginnt zu lesen, presst das giftige Werk mit einem schuldbewusst hingeseufzten „Ach“ an ihre Brust und setzt damit – nicht ganz frei von Komik – die dramatischen (Ur-)Gewalten in Gang. Aufs Stichwort beginnt das Klosterbett zu vibrieren. Es donnern die dunklen Mächte. Und statt der schwarzen Klostermauern steht plötzlich ein blendend weißer Palast vor uns, auf dessen höchster Stufe die Schauspielerin Ursina Lardi als Ödipus mit einseitig entblößter Brust Hof hält – oder besser: posiert wie auf einem Gemälde.

Castelluccis Idee, ausgerechnet die stumme Klosterwelt mit der nunmehr in Gang kommenden talking cure des thebanischen Königs zu verknüpfen, ist von ausdrücklich gewollter Schrägheit. Schließlich reiht sich tatsächlich eine Unterredung an die nächste in der Sophokleischen Tragödie des Ödipus, der – ohne es zu wissen – seinen Vater getötet, seine Mutter geehelicht und sich so zum Urbild der Freud’schen Psychoanalyse qualifiziert hat. In eigens initiierten und immer tiefer grabenden Enthüllungsdialogen mit Schwager Kreon, Seher Teiresias oder Gattin Jokasta, die Castellucci vom Schaubühnen-Ensemble in weihevoll-statuarischen Anordnungen und Entschleunigungschoreografien zelebrieren lässt, kommt der schwellfüßige Herrscher seiner Geschichte auf die Spur. Nach vollständiger Erkenntnis sticht er sich dann mit der Haarnadel seiner suizidalen Ehefrau (und Mutter) bekanntermaßen die Augen aus.

Ums Wort als nüchternen Bedeutungsträger ging es dem Bilder-Regisseur Castellucci freilich noch nie. Sondern um eine Art Maximalentrückung des Mythos vom psychologischen Instant-Theater. Dafür sorgt bereits die Hölderlin’sche Sprache, vor der sich der Italiener – nach „The Four Seasons Restaurant“ 2012 und „Hyperion“ 2013 – bereits zum dritten Mal in der Berliner Schaubühne verneigt. Die ausschließlich weibliche Besetzung des thebanischen Herrscherclans und die Überblendung griechischer Mythologie mit katholischer Ikonografie tun das übrige Verfremdungswerk.

Die künstlerische Strategie, Klarsicht durch Entfernung zu provozieren statt durch falsch verstandene Nähe, ist ja grundsätzlich zu begrüßen: Wir alle kennen den Erkenntnisgehalt jener Theaterabende, an denen uns „Medea“ als angebliche Kittelschürzennachbarin in der Sozialplatte oder Ödipus bei der After-Work-Party am Tresen begegnet. Aber für Castelluccis symbolschwangere und mit heiligem Ernst zelebrierte tableux vivants über Verdrängung, Schuld und Sühne, für die minimalistischen Bewegungen, in denen noch der kleinste Finger tonnenweise Bedeutung suggeriert, braucht man natürlich auch einen langen Atem. Außerdem ist ein Sinn für unfreiwillige Komik hilfreich. Zum Beispiel, wenn im Moment der ödipalen Enthüllungen mit dem Leib des Sehers Teiresias (Bernardo Arias Porras) minutenlang auch die komplette Theatermaschinerie zu erzittern scheint oder immer wieder das Klosterbett vibriert.

Ursina Lardi als Ödipus, Jule Böwe als Schwager Kreon und Iris Becher als optisch an der Jungfrau Maria geschulte Ödipus-Gattin und Mutter Jokasta durchmessen den Mythos ebenso gediegenen Schrittes wie weihevollen, aber zumeist angenehm pathosfernen Wortes. Bis der Regisseur plötzlich eine gewissen Zeitgenossenschaft über den Abend hereinbrechen lässt: Im Breitwandvideo übernimmt er eine Light-Version des ödipalen Blendungsjobs selbst, sprüht sich Pfefferspray in die Augen und lässt sich anschließend auf ziemlich brachiale Art von einem Sanitäter wiederherstellen: Frei verfügbare Assoziationsmasse; betont deutungsoffen wie der Rest des Abends.

Wieder am 9., 10. und 26.3., 20 Uhr

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