zum Hauptinhalt

Kultur: Ohne die Pest, meint David Herlihy, wäre aus Europa nichts geworden

Als in Florenz 1348 die Pest wütet, wird kaum mehr ein Verstorbener zu Grabe geleitet, "vielmehr war es so weit gekommen, dass man sich nicht mehr darum kümmerte, als man es um den Tod einer Geiß täte", beklagt Giovanni Boccaccio in seinem "Decamerone". Der Tod war entzaubert.

Als in Florenz 1348 die Pest wütet, wird kaum mehr ein Verstorbener zu Grabe geleitet, "vielmehr war es so weit gekommen, dass man sich nicht mehr darum kümmerte, als man es um den Tod einer Geiß täte", beklagt Giovanni Boccaccio in seinem "Decamerone". Der Tod war entzaubert. Der Epidemie fielen im zentralen Europa fast drei Viertel der Bevölkerung zum Opfer. Im 13. Jahrhundert noch hatte Franz von Assisi den Tod als eine Schwester begrüßt. Aber das massenhafte Sterben verstörte die Menschen, der Tod galt nicht länger als tröstlicher Mittler zwischen Diesseits und ewigem Leben, sondern als Feind.

Der Glaube an eine festgefügte Ordnung der Welt hatte mit der großen Pest eine einschneidende Erschütterung erfahren. Danach war nichts mehr wie zuvor, lautete die Grundannahme des 1991 verstorbene amerikanischen Historikers David Herlihy. Aus seinen Forschungen zur geschichtlichen Rolle der Pest entwickelte er eine These: Die Pest war die größte Naturkatastrophe in der Geschichte Europas, ermöglichte aber einen großen Entwicklungssprung. Europa habe seit 1300 in einer "malthusianischen Pattsituation" festgesessen. Die stark wachsende Bevölkerung wäre zwar noch lange Zeit zu ernähren gewesen, doch blockierte das stagnierende demographisch-ökonomische System jede qualitative Weiterentwicklung. Die Pest hob dieses Patt auf und erlaubte es den Europäern, Produktionsweisen und Institutionen so umzubauen, dass sie offener für neue Entwicklungen wurden. Die verminderte Zahl an Arbeitskräften machte es erforderlich, die Anbaumethoden zu rationalisieren, die gelichteten Reihen der Gelehrten veranlassten überall in Europa die Städte zur Universitäts-Gründung.

Im letzten seiner drei Essays geht es Herlihy um den durch das Massensterben hervorgerufenen Wandel im Denken und Fühlen der Menschen. Er beschreibt, wie die Seuche Menschen dazu trieb, sich Geißlerzügen anzuschließen oder auf Pilgerfahrt zu gehen. Viele hofften, fern der Heimat einer Ansteckung zu entgehen. Zugleich entzweite die Pest die Mehrheit der Gesellschaft von ihren Randgruppen: Reisende, Bettler, Lepröse und Juden galten als mitverantwortlich für den Ausbruch der Pest. Doch betont Herlihy in erster Linie Fortschritte: Die Pest leitete eine Erneuerung der medizinischen Wissenschaft ein, die Lehre an den Universitäten wurde reformiert. Da die Epidemie die Zahl der Lateinkundigen dezimiert hatte, setzten sich die Volkssprachen im Basis-Unterricht durch. Auf diese Weise habe die Pest in Europa das Zeitalter des kulturellen Nationalismus eingeleitet! Bisweilen läuft Herlihy Gefahr, seine These von der Pest als Motor der Modernisierung zu verabsolutieren. Seine Standpunkte greift der Kollege und Herausgeber Samuel K. Cohn in einem Nachwort auf. Herlihys Thesen waren nicht unumstritten. Doch bieten seine Essays einen anschaulichen Einstieg in die Kulturgeschichte Europas vor und nach den Schicksalsjahren von 1348/49. Düster-faszinierende Gemälde und Stiche spätmittelalterlicher Pest-Details machen das Buch zu einer Augenweide.David Herlihy: Der Schwarze Tod und die Verwandlung Europas. Wagenbach, Berlin 1999. 142 S. , zahlreiche Abb. , 34 DM.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false