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Kultur: Ohne Firn und Tadel

Riccardo Chailly bei den Philharmonikern.

Tradition ist etwas nur äußerst schwer Fassbares. Zumeist wird sie beschworen oder aber als bedroht eingestuft – und in raren Momenten klingt sie als in der Musik eingeschriebenes Kontinuum an. Wenn Riccardo Chailly ans Pult der Philharmoniker tritt und die Italienische Symphonie dirigiert, dann hebt mit ihm auch ein Nachfolger Mendelssohns als Kapellmeister des Gewandhauses den Taktstock. Ein Dirigent, der genau weiß, dass Mendelssohn als Komponist und Musikbeweger einen Horizont zu spannen vermochte, unter dem wir heute noch sitzen, wenn wir ins Konzert gehen. Dass die Italienische aber „das lustigste Stück, das ich gemacht habe“ sein soll, widerlegt Chailly, ohne je den Pfad der Klarheit zu verlassen. Durch das Andante zieht eine Melancholie wie aus Urzeiten – Urschichten, zum Klingen gebracht. Auch der schwärmerische Impetus scheint gezügelt, Mendelssohn ist unbedingt Klassiker, daran lässt Chailly keinen Zweifel.

Mit der Sechsten von Bruckner wagen sich die Philharmoniker dann ins Rätselgebirge. Zuletzt spielten sie das Werk 2010 unter dem gelassenen Altmeister Herbert Blomstedt, auf den Chailly als Gewandhauskapellmeister folgte. Wie ein Restaurator löst er Schicht um Schicht des Firns von der Partitur. Sie strebt weniger aus der Welt als andere Symphonien Bruckners und wirkt ironischerweise gerade deshalb so fern. Unter Chaillys zügigem Dirigat wird das Klangbild lichter und heller. Seine ausgetüftelten Raumklangmischungen, mit denen er auch bei Mahler-Aufführungen immer wieder glänzte, treten zurück hinter einer Vision strahlender Kompaktheit, einer Klassizität ohne Weiheschleier. Die Philharmoniker folgen ihm darin verschworen – auch wenn es bedeutet, die Lösung von Bruckners Rätseln anderen zu überlassen (noch einmal am heutigen Freitag, 20 Uhr). Ulrich Amling

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