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Kultur: Ohne Intensität ist alles nichts

Josef Koudelkas legendärer Fotoband über die Roma in einer Neuausgabe.

Ein weißes Großformat, Name und Titel in schwarzen Antiqua-Versalien. Ich musste das Buch haben. Seit Josef Koudelkas berühmten Aufnahmen von der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, seit seinem daraus folgenden Weggang aus der Tschechoslowakei, seit den ersten Büchern mit Fotografien und der gleichzeitig einsetzenden Mythisierung des Fotografen ist viel Zeit vergangen.

In dem neuen Band sind wie in der englischsprachigen Vorlage 109 Aufnahmen von Roma versammelt, entstanden von 1962 bis 1971 zwischen der Slowakei als östlichstem und Spanien als westlichstem Punkt.

Wer dieses Buch aufschlägt, wird sofort berührt. Das grobkörnige Schwarz-Weiß der Aufnahmen erzeugt unvermittelt Tiefe, sowohl im Raum als auch in der Zeit. Man gerät in Stuben, vor Liebende, Betrunkene, man steht dem Tod gegenüber. Man sieht Kinder, ihre Spiele, ihren Stolz, die Frechheit, den Mut, ihre Not. Man hört die Musik und die Witze der Musiker, die ihre Instrumente präsentieren.

Ich bildete mir ein, ich könnte das Gespräch notieren, das der hockende Mann mit dem Schimmel führt. Das Buch in der S-Bahn auf dem Schoß, wenn ich aufschaute, waren die ahnungslosen Gesichter der mit mir Fahrenden auf einmal besondere, auf jedes fiel ein Abglanz.

Josef Koudelka, Jahrgang 1938, möchte nicht der Sklave seiner eigenen Legende sein. Doch war er selbst es, der auf die Frage nach dem Rüstzeug des Fotografen nichts als gute Wanderschuhe empfahl. Er war es, der in einem fensterlosen Büro der Pariser Fotoagentur Magnum, der er seit 1971 angehörte, schlief. Er reiste nur mit Schlafsack und Kamera. Die Roma hielten ihn, zu Recht oder Unrecht, für ärmer als sich selbst, weil er das Dach über dem Kopf ablehnte und draußen schlief.

Peter Sager zitiert in einem Aufsatz über den Fotografen einen Rom, der „Josef“ fragt, wo er einmal bleiben möge. Der antwortet, er versuche, diesen Ort nicht zu finden. Das gilt nicht mehr für den 73–Jährigen, der inzwischen eine Wohnung in Prag sein Eigen nennt. Der Nomade Koudelka – das jüngste seiner drei Kinder, auf den Beruf des Vaters angesprochen, nannte diesen – formulierte, wenn einer nichts besitze, finde er ja überall mehr und könne also glücklich sein. Die Affinität zu den Roma, so erklärt sie sich, einerseits.

Diese Bilder gibt es, weil ein damals selbst Mittelloser anderen Mittellosen nahe war – zu Beginn übrigens wegen ihrer Musik. Zum anderen resultierten sie aus Geduld und Abergeduld. Und schließlich kommen sie aus Professionalität, aus dem untrüglichen Blick für den sprechenden Moment. In einem Roma-Märchen heißt es am Ende: „So starb der gelehrte Rom-König, so starb sein Esel, so starb die ganze Rom-Literatur.“ Über den früheren Bildband „Gypsies“ schrieb Sean O’Hagan 2008 im „Observer“, dieses Buch besitze mehr erzählerische Kraft als viele zeitgenössische Romane. Das gilt allemal für das vorliegende.

Eindeutigkeit der Geschichten gibt es natürlich nicht. Wir kennen das Verbrechen des Verhafteten nicht. Wir sehen Polizisten, Gaffende, den plötzlich einsamen Delinquenten. Als Situation des Menschen wiedererkennbar, so eindeutig, so klar, dass der Betrachter nur Anteil nehmen kann. O’Hagan spricht in seinem Artikel von der rauen Schönheit und großen Traurigkeit in den Bildern und gibt ihnen den portugiesischen Namen der Melancholie: Saudade. Das ist es! Und auch wieder nicht.

Es lohnt sich, eine versachlichende Pause mit dem Nachwort des Soziologen Will Guy einzulegen. Es erzählt die Geschichte des Volkes der Roma und endet mit einem politischen Ausblick. Doch dann halten wir wieder Tag und Nacht, Triumph und Verzweiflung, Lachen und Weinen auf den Fotografien gegeneinander und schauen, wie die Waage sich neigt. Leicht einzusehen, dass Koudelka bei Zigeunerfreunden „Romantico clandestino“ hieß. Jedes Umblättern ist mit einem Wechsel der Stimmung verbunden, jedes Bild besitzt und erzeugt Intensität. „If you lose intensity, you lose everything.“ Koudelka.

Josef Koudelka: Roma. Mit einem Nachwort von Will Guy. Steidl Verlag, Göttingen 2011. 176 Seiten, 48 €.

Uwe Kolbe

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