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Der singende Weihnachtsbaum oder Green Christmas: Weihnachtslieder, die uns als Ohrwürmer heimsuchen, sind oft englische Popsongs.

© p-a/dpa

Ohrwürmer zu Weihnachten: Und jetzt alle: "Jingle Bells, Jingle Bells..."

Der Neurophysiologe Eckart Altenmüller spricht im Interview über Ohrwürmer und andere Rätselphänomene der Musik sowie über Musikerkrankheiten - und darüber, wie man Ohrwürmer wieder los wird.

Dr. Eckart Altenmüller, Jahrgang. 1955, studierte Medizin und Musik. Nach dem Konzertexamen im Fach Querflöte, der Habilitation in Neurologie sowie ärztlichen und wissenschaftlichen Tätigkeiten wurde er 1994 Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musik- und Theaterhochschule Hannover. Altenmüller erforscht unter anderem musiktherapeutische Methoden zur Unterstützung von Alzeimer- und Parkinson-Patienten sowie die sogenannte Musiker-Dystonie: den Kontrollverlust bei extrem eingeübten Bewegungen, etwa bei Pianisten. 2013 erhielt er den Wissenschaftspreis des Landes Niedersachsen. Wir erreichen Eckart Altenmüller am Telefon.

Guten Tag, Herr Altenmüller, Ihr Institut für Musikphysiologie hat ja ein schreckliches Musikgedudel in der Warteschleife!
Oh, Entschuldigung, ich höre das ja nie. Wir hatten mal sehr schöne Musik von Haydn, aber das wurde teuer, denn bei jedem Telefonat kassiert die Gema Gebühren. Auch die eigens für uns komponierte Warteschleifen-Musik konnten wir nicht verwenden; der Komponist hätte bei jedem Anruf einen Mini-Betrag kassiert, auch das wäre auf die Dauer ins Geld gegangen. Also gibt’s bei uns grauenhafte Dudelmusik, gebührenfrei. Wir brauchen das Geld ja für unsere Forschung.

Wir wollen über Ohrwürmer reden, die Weihnachtszeit eignet sich gut dazu. „Jingle Bells“, „Last Christmas“ – wieso sind Ohrwürmer oft englische Songs?
Das hat damit zu tun, dass Popmusik in der heutigen Öffentlichkeit in besonderem Maß präsent ist. „Yesterday“, „Tea For Two“, „Strangers In The Night“, „We Are The Champions“, das kennt einfach jeder. „Jingle Bells“ war in meiner Kindheit im Deutschland der 50er Jahre schlicht unbekannt. Wir gehen durch unsere Innenstädte und schnappen aus allen Weihnachtsbuden diese Musik auf, vielleicht nur einen Fetzen, den singen wir innerlich weiter. Ohrwürmer gibt es oft dann, wenn die sogenannte frontale Kontrolle nachlässt. Unser Gehirn ist ja vor allem damit beschäftigt, uns Hemmungen aufzuerlegen und dafür zu sorgen, dass wir keine Sachen machen, die ungünstig für uns sind. Es verhindert zum Beispiel, dass wir Männer einfach über Frauen herfallen.

Eckart Altenmüller, Arzt und Musiker, erforscht die menschliche Hirntätigkeit beim Hören von Musik
Eckart Altenmüller, Arzt und Musiker, erforscht die menschliche Hirntätigkeit beim Hören von Musik

© IMMM

Das Gehirn zivilisiert uns Triebwesen?
Ja. Wenn wir schwach werden, also abgespannt sind, dann poppt auf, was wir sonst unterdrücken. Zum Beispiel diese Melodien, die irgendwo im Hintergrund lauern.

Wieso lauern da eigentlich nur musikalische Ohrwürmer und keine Sätze oder Bilder, die sich im Gedächtnis festhaken?
Natürlich gibt es Ereignisse, die wie Filmszenen immer wieder vor unserem inneren Auge ablaufen – etwa bei posttraumatischen Belastungsstörungen. Aber es sind Ausnahmephänomene, oft krankheitsbedingt. Der Ohrwurm ist eher etwas Normales. Er tritt häufig auf, ist nicht unbedingt eine Melodie, die man wertschätzt, sondern oftmals ein trivialer Popsong. Der poppt aus unserem musikalischen Arbeitsgedächtnis auf, weil irgendein Impuls die Erinnerung an ihn stimuliert hat. Dabei wird quasi automatisch auch das Singezentrum aktiviert, die Stelle im Gehirn, an der die Steuerung der Stimmlippen und die Rhythmuswahrnehmung verortet sind, so dass ich innerlich mitsinge. Dieses Mitsingen führt zu einer neuerlichen Aktivierung des Mithörens, und schon hängen wir in der schönsten Endlosschleife zwischen Mitsingen und Mithören fest. Es ist wie ein Kurzschluss.

Sie sagen auch: Die eine Gehirnhälfte singt der anderen etwas vor.
Die meisten Ohrwürmer lagern in der rechten Hirnhälfte, die für komplexere Gestalten zuständig ist. In der linken Gehirnhälfte sind eher Details gespeichert. Sachen wie, aha, das ist der Klang der E-Gitarre, des Drumsets, der Hi-Hat. Rechts sind die Melodien gespeichert (singt): „Yesterday, all my trouble seemed so far away“.

Was sich jeder schon denken kann: Der Ohrwurm hat eine eingängige Melodie...
... er hat oft Motivwiederholungen, ist rhythmisch simpel, leicht singbar, meist mit Text unterlegt. Ein komplexer Jazzrhythmus, einer dieser schwierigen bulgarischen Rhythmen, das taugt nicht zum Ohrwurm. Was wir inzwischen auch wissen: Leute, die häufig unter Ohrwürmern leiden, haben dickere Nervenzell-Lagen im Bereich der Hör-Assoziationszentren. Sie schleppen eine größere Kiste mit Melodien mit sich herum. Musiker leiden mehr unter Ohrwürmern als musikalische Laien.

Sie sind nicht nur Arzt, sondern auch Flötist mit Konzertexamen. Wie kommt’s?
Wir waren acht Kinder, ich bin der Jüngste. Meine schwäbischen Eltern sagten pragmatisch: Du lernst was Rechtes. Das war 1973, also gut, dachte ich, studiere ich halt Medizin. Dann bekam ich ein Stipendium für Paris und nahm dort heimlich Unterricht. Mein Lehrer, der französische Flötist Christian Lardé, riet mir zur Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule, und so studierte ich Flöte in Freiburg, bei Aurèle Nicolet. Ich übe bis heute fast täglich und veranstalte Gesprächskonzerte zum Thema „Wie kommt die Musik in den Kopf?“. Das macht Riesenspaß: Ich spiele Solostücke für Flöte und erkläre, was dabei im Gehirn passiert.

Die Lautstärke, der Druck des Musikmarkts: Warum Musiker, vor allem Solisten, heute kränker sind als früher

Der singende Weihnachtsbaum oder Green Christmas: Weihnachtslieder, die uns als Ohrwürmer heimsuchen, sind oft englische Popsongs.
Der singende Weihnachtsbaum oder Green Christmas: Weihnachtslieder, die uns als Ohrwürmer heimsuchen, sind oft englische Popsongs.

© p-a/dpa

Acht Kinder, da wird die Familie zum Laienorchester. Hat die Frage, was Musik im Gehirn anstellt, Sie schon früh beschäftigt?
Vor allem war es keine Frage, dass Musik zum Leben gehört. Wir durften alle zwei Instrumente lernen; das Klavier stand im Wohnzimmer. Schon meine Großmutter war Klavierlehrerin gewesen, bevor sie ihre vier Kinder bekam. Und ich mit meinen sieben Geschwistern, da hat eins immer geübt. Das war Echtzeit-Immer-Unterricht. Ständig kam einer vorbei und sagte: Wie, das spielst du mit dem Fingersatz? Oder: Die linke Hand ist an der Stelle aber viel zu laut! Frühes Musizieren aktiviert die auditive Wahrnehmung und natürlich die Sensomotorik. Und es erhöht die emotionale Kompetenz. Heute ist gut erforscht, dass mit dem Musizieren eine ganze Menge neurophysiologischer Veränderungen einhergehen, einschließlich der Fähigkeit des Spracherwerbs.

Wer früh ein Instrument spielt, kann besser Englisch und Französisch lernen?
Gerade Zweitsprachen lassen sich nachweislich besser erlernen. Wer musiziert, hat ein besseres Wortgedächtnis. Worte sind ja auch Klänge: Je mehr das musikalische Arbeitsgedächtnis trainiert ist, desto besser können wir es beim Vokabel-Lernen einsetzen.

Wird Musik deshalb auch bei Alzheimer-Kranken eingesetzt?
Musik ist besonders in den alten emotionalen Gedächtnisstrukturen gespeichert. Sie ist mit Gefühlen verbunden, die enorm stabil sind. Unser auditives Gedächtnis bildet sich um die Pubertät herum aus, dann, wenn wir emotional geprägt werden. Die Musik zur ersten Liebe, zum ersten Kuss, die vergisst man nie. Meine hartnäckigsten Ohrwürmer stammen aus der Studentenzeit, Chansons von Edith Piaf (singt wieder), „Sous le pont neuf , dadidada, dülülü, dammdiiidaaa...“. Und es sind die Stücke, die ich gerade intensiv übe. Selbst wenn sie schwer singbar sind, lassen sie mich nicht mehr los.

Sigmund Freud sagte, Ohrwürmer sind die unbewusste Artikulation von Wünschen. Hat er recht?
Es wäre wahrscheinlich aufschlussreich, wenn Psychoanalytiker ihre Klienten nach Ohrwürmern fragen. Beim Traum, den Freud ja den Königsweg zur Seele nennt, ist es evident. Interessanterweise träumen wir ganz selten Melodien. Wenn Musik zur Halluzination wird, zur ernsthaften Heimsuchung, hat das oft pathologische Gründe. Der berühmteste Fall ist Robert Schumann, der nachts aufwachte, weil ihm angeblich die Geister ein Thema diktierten. Es wurde dann das Thema des zweiten Satzes seines d-Moll-Violinkonzerts: Da-düdii-dii, da-dü-dii-dii, er hat es später mehrfach verwendet. Bestimmt handelte es sich um eine Melodie, die Schumann einmal verworfen hatte, um sie dann im Schlaf zu aktualisieren.

Die Ohrwurm-Experten treffen sich auch auf internationalen Kongressen,„The Neuroscience of Music“, dieses Jahr in Dijon. Was besprechen Sie da?
Ein großes Thema ist gerade die Frage, wie man Menschen mit Musik helfen kann. Wie können neurologische Musiktherapien für Patienten mit Alzheimer-Demenzen oder Parkinson entwickelt werden? Das zweite Thema ist die Hirnorganisation der Musikwahrnehmung: Wie werden Melodien eigentlich abgespeichert? Musiker haben zehntausende, wenn nicht hunderttausende im Kopf, wie macht das Gehirn das? Speichert es die ganze Bruckner-Sinfonie, wird sie sequenziert? Wie memoriert ein Pianist die Goldberg-Variationen und kann zudem 40, 50 Stunden Repertoire auswendig? Wie funktioniert die Kommunikation von Kammerensembles beim Musizieren, ist das wie Telepathie? Lauter Rätselfragen, sehr spannend.

Sie befassen sich auch mit Musiker-Krankheiten.

Das war ebenfalls ein wichtiger Punkt in Dijon. Wie bleiben Musiker gesund und leistungsfähig? In unserem Institut in Hannover erforsche ich die sogenannte Musiker-Dystonie, den Verlust der Bewegungskontrolle bei extrem eingeübten Bewegungen.

Der Pianist Leon Fleisher litt darunter.
Auch sein Kollege Jean-Efflam Bavouzet, er hat in der Öffentlichkeit darüber gesprochen. Oder Michel Beroff.

Sind Solisten heute kränker, weil der Druck auf die Stars zugenommen hat, Beispiel Rolando Villazón?
Es geht wesentlich kompetitiver zu als früher, bei gestiegenem technischem Niveau. Der Markt sortiert gnadenlos aus, das geht zackzack. Wer oben bleiben will, muss sehr stabil sein. Als Arzt erlebe ich das auch bei jungen Musikern. Sie würden durch die Hölle gehen, kiloweise Pillen nehmen, bloß um noch spielen zu können. Sie haben eine Riesenangst davor, ihrer Agentur zu sagen, ich kann nicht auftreten, ich bin krank. Ich versuche dann, bei ihnen die Einsicht zu erzeugen, dass sie eine kreative Pause einlegen sollten. Gegenbeispiele gibt es zum Glück auch: Solisten, die sich zurückziehen, um Kraft zu schöpfen und mit einer neuen Facette ihres Musizierens wiederzukehren. Die niederländische Geigerin Janine Jansen gehört dazu, sie spielte 120 Konzerte im Jahr. Sie hat dann offen über ihren Burnout gesprochen.

Und unter welchen Krankheiten leiden Orchestermusiker?
Viele haben chronische Schmerzen, die Geiger in den Armen, die Bratscher speziell im Nacken, die Cellisten im Rücken. Bei den Bläsern geht es spätestens mit 50 mit dem Gebiss los. Und es gibt Hörstörungen, Tinnitus-Erkrankungen. Das sind ja auch Ohrwürmer – bloß auf einem Ton. Der Tinnitus ist mit Angst besetzt: Hilfe, ich verliere mein Gehör! Diese Angst kann man lindern. Aber die Lautstärke ist schon ein Problem: Die Orchester waren früher schlicht leiser, was auch an den Sälen liegt. Vergleichen Sie mal das alte Gewandhaus in Leipzig mit dem neuen! Je mehr Leute, desto mehr Einnahmen: In den Kuppelsaal in Hannover passen 1600 Zuschauer, das geht nicht ohne Lautstärke.

Im Orchestergraben ist sie besonders hoch. Allein die Dezibelstärken bei den Cellisten, die vor den Blechbläsern sitzen.
Bessere Arbeitsbedingungen für Musiker, Hörschutz, Hör-Hygiene - das hat die Deutsche Orchestervereinigung auf ihrer Agenda. Da wird sich in den nächsten Jahren viel tun. Bei unserem Lehrer Aurèle Nicolet in Freiburg, der ja Solo-Flötist bei den Berliner Philharmonikern unter Karajan war, mussten wir geradezu in die Flöten brüllen. Mit der historischen Aufführungspraxis hat sich da zum Glück Etliches zum Guten geändert.

Woher kommt eigentlich der Begriff Ohrwurm? Im Englischen spricht man von "sticky songs".
Es gibt diese Insekten, Ohrwürmer, und man stellt sich halt vor, dass sie in den Gehörgang hineinkriechen. Der Fachbegriff heißt UMM, "unwanted melodic memories".

Und was empfiehlt der Wissenschaftler, damit der Ohrwurm verschwindet?
Die Aufmerksamkeit massiv auf etwas anderes lenken! Selbst den Tinnitus kann man so bekämpfen, Christoph Pantev betreibt das erfolgreich an der Uni Münster. Nehmen wir an, Sie haben einen Dauerton, etwa das hohe C. Den filtern sie in Münster aus Ihrer Lieblingsmusik heraus und verstärken dafür die Nachbartöne, das Cis und das H. So werden die Neuronen, die für das C zuständig sind und den Tinnitus im Hör-Cortex erzeugen, von den anderen Neuronen überwuchert. Funktioniert: 60 Prozent Linderung! Genauso ist es beim normalen Ohrwurm. Am wirksamsten ist es, etwas anderes zu singen. Etwas, das man mag.

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