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Onegin Staatsoper

© Marcus Lieberenz

''Onegin''-Neuinszenierung: Mein Name sei Monsieur Bip

Achim Freyer inszeniert "Eugen Onegin" an der Berliner Staatsoper mit Rolando Villazón. Freyer interessiert sich allerdings nicht für das bewegende Einzelschicksal, das Tschaikowsky zu seiner schönsten Musik inspirierte.

Es gibt nur eine Handvoll Libretti, denen man blind vertrauen kann: Mozarts „Figaro“ gehört dazu, Puccinis „La Bohème“ und Tschaikowskys „Eugen Onegin“. Alle diese Opern sind einfach perfekt konstruiert, ihre Geschichten lebensnah, die Figuren glaubhaft. Der Konflikt in Puschkins Versdrama, aus dem Tschaikowsky 1877 seine „lyrischen Szenen“ destillierte, ist ein erschütterndes Sittenbild der russischen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts und zugleich von zeitloser Gültigkeit: Irgendwo in der Provinz lebt eine Witwe mit ihren Töchtern. Tatjana, die ältere, träumt von ihrem Märchenprinzen – und meint ihn in Eugen Onegin, dem neuen, aus Moskau zugereisten Gutsnachbarn, gefunden zu haben. Sie setzt sich über die Konventionen hinweg, schreibt ihm einen Liebesbrief. Doch der Dandy aus der Großstadt stößt sie zurück, zettelt aus arrogantem Lebensekel gar ein Duell mit seinem besten Freund an, tötet diesen, flieht ins Ausland. Als er Jahre später zurückkehrt, trifft er in Moskau auf Tatjana, die jetzt mit einem alten Grafen verheiratet ist, und erkennt, dass er den größten Fehler seines Lebens begangen hat. Weil sie aber glaubt, er sei nur durch ihren gesellschaftlichen Aufstieg geblendet, stößt Tatjana ihn nun ihrerseits zurück.

In seiner Neuinszenierung des „Eugen Onegin“ an der Berliner Staatsoper interessiert sich Achim Freyer allerdings nicht für das bewegende Einzelschicksal, das Tschaikowsky zu seiner schönsten Musik inspirierte. Nein, dem Regisseur geht es darum, auf der Bühne die Endlosschleife des Lebens sichtbar zu machen. „Die Welt, ein ewiger Fluss des Gleichen, der auf uns zurollt und wieder vergeht“, postuliert Freyer. „Ein tragischer Weg, aber heiter.“ Die gut zweieinhalb Stunden Aufführungsdauer hat er geviertelt, viermal hintereinander läuft dieselbe rätselhafte Gruppenchoreografie ab, die Solisten bewegen sich im Zeitlupentempo über die schräge Spielfläche, die Artisten vom „Freyer Ensemble“ umspielen sie, Sitzgelegenheiten beturnend („Der Stuhl ist der Idealpartner“, raunt Freyer, „jeder ist monolithisch einsam mit seinem Stuhl.“). Wie eine traurige Clownstruppe taucht immer wieder der Chor auf, die Massen formieren sich zu lebendigen Bildern, bis alle schließlich an der Rampe erstarren, Tatjana trägt Schleier, neben ihr ein kopfloser Bräutigam, in tonlosem Lachen schüttelt sich die Festgesellschaft. Lichtwechsel, Cut, alles beginnt von Neuem.

Die Idee, Freyer zu engagieren, stammt noch vom jüngst geschassten Intendanten Peter Mussbach. Der hatte in seiner Amtszeit vor allem dadurch Medienfurore gemacht, dass er Quereinsteiger Unter den Linden experimentieren ließ, Filmregisseure wie Percy Adlon oder Doris Dörrie, den Produzenten Bernd Eichinger, die Architekten Herzog und de Meuron, den Installationskünstler Olafur Eliasson. Der 74-jährige Freyer gehört mit in diese Reihe, wenngleich er seit einem Vierteljahrhundert Opern inszeniert. Denn der Gesamtkunstwerker, der stets Regie, Ausstattung und Lichtkonzeption aus einer Hand liefert, ist auch ein Spezialist: Er versteht es, das symbolistisch-märchenhafte Potenzial des Musiktheaters sichtbar zu machen. Seine „Zauberflöten“-Deutungen sind legendär, in Leipzig rettete er Schumanns als unaufführbar abgestempelte „Genoveva“ ins Reich der Fantasie herüber, die Deutsche Oper Berlin besitzt eine „Salomé“ von ihm, die das Schwüle der Oscar-Wilde-Vorlage in magischen Surrealismus verwandelt.

Hier, im „Eugen Onegin“ allerdings, treten Freyer diesmal keine konventionellen Opernfiguren gegenüber, die es zu be-, ver- oder entzaubern gälte, sondern Figuren aus Fleisch und Blut. Dennoch mag der Meister nicht von seiner Methode lassen, stülpt dem Stück sein bekanntes Konzept der Künstlichkeit über. Unser Leben, ein langer, ruhiger Fluss – das provoziert prompt den wütenden Zwischenruf vom Rang: „Hier geht es um Leidenschaften, nicht um Langeweile!“ Das würde der Regisseur wohl noch nicht einmal abstreiten – nur formt er das dramatische Personal eben mit seinem Lehm und nach seinem Ebenbild. Das sieht dann aus wie immer bei Freyer: als hätte die Inszenierung bereits 20 Jahre auf dem Buckel. Die nackte Szene und die stilisierten Kostüme (Lena Lukjanova, Amanda Freyer) wirken wie mit Vorstrichfarbe behandelt, ein Weiß, das nicht deckt, Schwärze durchscheinen lässt. Die Darsteller sind maskenhaft geschminkt, mit großen Puppenaugen und dunkel bepinselten Mündern. Wer weiland den Pantomimen Marcel Marceau geliebt hat, wird diese Optik schätzen. Und in der Tat erinnert Rolando Villazón hier einmal nicht an Mister Bean, sondern eher an Monsieur Bip.

Villazón ist überhaupt die Überraschung des Abends. Nicht, weil er seine Stimme wiedergefunden hat, weil er den Lenski mit den gewohnten 100 Prozent Emotion singt, eine Kerze, die an beiden Enden brennt, wie die Callas, sondern weil der Weltstar tatsächlich mit Leib und Seele bei der abstrakten Sache ist, sich in allen vier Durchläufen der Endlosschleife verausgabt, grimassierend, die Hände ringend, auch am Ende, wenn er im Stück bereits tot ist. René Pape dagegen lässt sich lieber dreimal doubeln, bevor er als Fürst Gremin seinen großen, großartigen Auftritt hat. Katharina Kammerloher ist in ihrer mädchenhaften Zartheit wahrlich nur auf dem Papier eine Mutter, Roman Trekel, seit zwei Jahrzehnten ein Trumpf im Ensemble , findet bei aller Klangschönheit noch nicht den rechten Ton für den Titelhelden. Für Olga und Filipjewna hat man russische Spezialistinnen geholt, Maria Gortsevskaya gibt warmstimmig die junge Schwester, Margarita Nekrasova orgelt beeindruckend als alte Amme. Anna Samuils Tatjana schließlich hat erfreulich an Ausdruckskraft gewonnen seit ihrem Rollendebüt bei den Salzburger Festspielen 2007 unter Daniel Barenboim.

Der Maestro dirigiert auch jetzt, hetzt wieder durch die Chor- und Tanzszenen, als könne er weder Bauern- noch Großbürgerversammlungen ausstehen, lässt seine Staatskapelle oft grell spielen, mit offenem, holzschnittartigem Sound, setzt auch in den Soloszenen auf schnellen Puls und heißen Atem, extrem subjektiv, als wolle er aus dem Orchestergraben eine akustische Gegeninszenierung schaffen, seinen Sängern geben, was ihnen die Regie verweigert: Individualität. Je besser man mit dem Stück vertraut ist, desto schwerer fällt es übrigens, der Musik zu folgen. Sobald klar ist, dass die Bewegungsmuster wiederholt werden, spielt der Kenner in Gedanken die kommenden Szenen durch: Schon im vierten Bild versucht er zu erahnen, welche Arie sich bei welcher Figurenkonstellation im siebten Bild abspielt. Der wütende Buhsturm, der am Schluss über Achim Freyer niedergeht, lässt allerdings vermuten, dass dieser Endlosschleifen-„Onegin“ sich kaum zum Perpetuum mobile im Repertoire der Staatsoper entwickeln wird.

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