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© dpa

Online-Bibliotheken: Klick den Kafka

Bibliothek und online – das sind gegenwärtig Pathosformeln: Wie deutschsprachige Online-Bibliotheken unsere Lesekultur verändern werden.

Dass man mit Friedrich Schiller Geschäfte machen kann, war schon Mitte des 19. Jahrhunderts kein Geheimnis: „Welch eine Menge von Papiermachern, Druckersleuten, Verkäufern, Angestellten, Laufburschen, Lederhändlern, Buchbindern verdienten und werden (mit ihm) ihr Brot noch verdienen“, staunte der jugendliche Held in Gottfried Kellers Klassiker „Der grüne Heinrich“. Wie sehr er recht behalten würde, ahnte er vermutlich nicht: Nun soll sich nicht nur Schiller, sondern auch Keller lohnen – für den Online-Markt. Die Werke beider Autoren sind feste Bestandteile des privatwirtschaftlichen Berliner Projekts Zeno.org, das sich selbst als „größte deutsche Online-Bibliothek“ bezeichnet und in diesen Tagen freigeschaltet wurde.

Bibliothek und online – das sind gegenwärtig Pathosformeln. Die eine steht für das kulturelle Gedächtnis, für die Erinnerung an alles Gute, Wahre und Schöne auch ferner Zeiten und Länder. Die andere mit vernetzter Kommunikation zu übersetzen, wäre zu simpel; vielmehr ist sie zum Attribut einer ganzen Lebensweise geworden: Ich und mein Laptop – das ist das Motto einer digitalen Boheme, die zentrale Intelligenzagenturen gründet, bei Veranstaltungen eigens Garderoben für Notebooks einrichtet und ihr vernetztes Leben kurzerhand Arbeit nennt.

Zeno.org bedient sich der Versprechen beider Bereiche. In Anlehnung an den historischen Zenodot von Ephesus, der 284 v. Chr. die Bibliothek von Alexandria und damit das Wissen der damaligen Welt verwaltete, verheißt schon der Name Programmatisches. Er will zumindest die gemeinfreien, also die nicht mehr dem Urheberrrechtsschutz unterliegenden Kultur- und Wissensbestände der heutigen Welt in nennenswerten Teilen verfügbar machen – und zwar online und kostenlos. Viel Altes also auf neue Weise.

Die Basis für dieses Unternehmen bietet die „Digitale Bibliothek“ der Directmedia Publishing GmbH, die seit Jahren Bildsammlungen und Grundlagentexte geisteswissenschaftlicher Disziplinen elektronisch erfasst und als CD-ROM erfolgreich vertreibt. Dabei macht sie den eigenen CD-ROMs zunächst einmal selbst Konkurrenz.

Doch abgesehen davon, dass sich schon aus rechtlichen Gründen längst nicht alle CD-ROM-Editionen einfach ins Netz stellen lassen, liegt für die Betreiber die Zukunft digitaler Texte nicht auf der Silberscheibe, sondern im Internet, wobei eine defizitäre Durststrecke von drei bis fünf Jahren einkalkuliert ist. Spätestens dann soll sich das Projekt auch rechnen: zum einen durch verstärkte Kooperationen mit Verlagen und wissenschaftlichen Institutionen, zum anderen durch Werbung. So soll garantiert werden, dass die Online-Bibliothek für ihre Nutzer kostenlos bleibt.

Diese wiederum zahlen zwar nicht mit Geld, dafür mit jener Aufmerksamkeit, die eigentlich den literarischen Texten gilt, aber entsprechende Werbebanner links und rechts nicht ignoriert. Aufmerksamkeit wiederum ist im postindustriellen Zeitalter ein wertvoller Rohstoff. Private Fernsehsender leben davon, und die meisten Suchmaschinen – allen voran Google – basieren darauf: Dort sind Links der Gradmesser von Aufmerksamkeit, und die Seiten, die am meisten mit externen Adressen verlinkt sind, erscheinen bei den Suchergebnissen ganz oben.

Auch Zeno.org handelt mit der Aufmerksamkeit seiner Benutzer: Je häufiger die Seite angeklickt wird, desto attraktiver wird sie für die werbetreibende Wirtschaft – sofern diese an Zielgruppen interessiert ist, die sich ihrerseits für Literatur im Netz erwärmen. Während Zeitungen immer luftiger werden, stellt man hier kurzerhand eine halbe Milliarde Wörter ins Netz und hofft, damit irgendwann Geld zu verdienen. Das klingt nach einer guten Nachricht für alle Freunde des geschriebenen Worts.

Was aber bekommen die Nutzer für ihre Aufmerksamkeit? Jede Menge Text natürlich: literarische Werke bekannter und weniger bekannter Autoren, aber auch Lexika aus dem 19. Jahrhundert in digitalem Volltext und in Faksimile, zentrale Schriften aus Philosophie, Soziologie und Geschichte, allesamt über eine Suchfunktion erschließbar, wenn auch nicht so differenziert wie auf den entsprechenden CD-ROMs. Dazu kommt eine Bildersammlung, die rund 40 000 Werke umfasst. Außerdem sollen zukünftig auch aktuellere Titel verfügbar sein: Hardcover, Taschenbuch, Online-Text – man möchte ein festes Glied in der Verwertungskette der Verlage werden.

Ein solches Angebot dient in erster Linie der Recherche und soll, so die Zenodotisten, keineswegs die Lektüre ersetzen. Dennoch kann es nicht nur Menschen mit Bibliophobie dazu verführen, nicht mehr ganze Texte zu lesen, sondern lediglich einzelne Stellen zu suchen. Das kulinarische Verhältnis zu den Kultur- und Wissensbeständen erhält so eine zeitgemäße Bekömmlichkeit: leichte und schnelle Häppchen statt schwerer und zeitraubender Menüs. Doch selbst dieser Service reicht in Zeiten von Web 2.0, dem Mitmachmedium für Groß und Klein, nicht mehr aus. Weswegen etwa die Nutzer über Buchpatenschaften den Inhalt der Bibliothek mitbestimmen können. Sie geben die Digitalisierung eines gemeinfreien Werks in Auftrag, um es allen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Zu welchem Betrag dies möglich ist, lässt sich gleich online ermitteln.

Selbstverständlich dürfen auch Blogs nicht fehlen. Dort bemängelte ein aufmerksamer Leser allerdings schon wenige Tage nach dem Start von Zeno.org bei einem Text von Friedrich Schlegel die unvollständige und unrichtige Quellenangabe. Doch nicht nur der bisweilen laxe Umgang mit Quellenangaben stellt ein Problem dar, die Quellen selber bilden vielmehr häufig das Problem bei Zeno.org. Denn oft dienen ältere, antiquarisch günstig zu erwerbende Ausgaben als Vorlage, die kaum mehr zitierfähig und gerade bei Autoren wie Nietzsche oder Kafka aus vielerlei Gründen problematisch sind: Kafkas erster, zu Lebzeiten bekanntlich nicht veröffentlichter Roman heißt bei Zeno.org noch immer „Amerika“, wie 1953 in den Gesammelten Werken. In der Forschung dagegen hat man sich aus guten Gründen längst auf „Der Verschollene“ geeinigt und entsprechende Textgrundlagen bereitgestellt. Niemand würde Medikamente schlucken, die nach Rezepturen von 1950 gebraut sind. Bei Literatur geht das offenbar: Sind ja bloß Buchstaben.

So ist der allgemeine Jubel über Volltextsammlungen mit Open Access durchaus verständlich, zeugt aber auch von einer gewissen Wurschtigkeit: Hauptsache, man rettet das kulturelle Erbe ins digitale Zeitalter und versammelt die großen Namen – was sich dahinter verbirgt, nun ja. Was Online-Bibliotheken wie Zeno.org mithin fehlt, lässt sich im einschlägigen Jargon so formulieren: Premium-Content. Das wiederum liegt nicht allein an den Betreibern der Seiten, sondern an einem Dilemma geisteswissenschaftlicher Öffentlichkeit: Da werden exzellente, aber teure Klassiker-Editionen mit viel Aufwand erarbeitet und maßgeblich durch öffentliche Gelder finanziert. Dann wandern sie mit allen Rechten in die Hände privater Verlage, die kaum erschwingliche Ausgaben vor allem an Bibliotheken losschlagen, die diese wiederum deshalb kaufen können, weil sie ebenfalls öffentlich subventioniert sind. Diesen gordischen Knoten mögen jedoch die an Markenpflege geschulten Geisteswissenschaftler und Literaturlobbyisten nur ungern zerschlagen: Kafka bei S. Fischer – das klingt eben weit besser als Kafka bei WeWeWe Kafka DeE.

So ist der Umgang mit den Medien des kulturellen Gedächtnisses nicht nur hierzulande von einer spezifischen Crux geprägt: Die einen haben Angst vor Büchern, die anderen vor dem Internet, die einen vor dem Verlust von festen Kunst- und Wissenscorpora, wie sie Bücher aus namhaften Verlagen traditionell darstellen – die anderen vor der Überforderung durch Unmengen symbolisch verstaubter Bücher in realen Büchereien. Das Ergebnis sind halbherzige Online-Bibliotheken auf dem Wissensstand des Flohmarkts. Wir haben sie uns verdient.

Thomas Wegmann

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